Dr. Ulfert Tschirner, Kurator der kulturhistorischen Sammlungen für die Museumsstiftung Lüneburg
Nachdem uns die letzte Woche im Seminar Ansätze aus der Medientheorie beschäftigten und vor allem die Frage aufkam, ob diese für die Kunstgeschichte bzw. -wissenschaft fruchtbar gemacht werden kann, bekamen wir diese Woche (05.11.2015) Besuch von dem Ort, an dem wir als KunsttheoretikerInnen wohl am häufigsten das Original vorfinden, — dem Museum. Unser Gast Dr. Ulfert Tschirner arbeitet als Kurator der kulturhistorischen Sammlungen für die Museumsstiftung Lüneburg und war maßgeblich an der Neueinrichtung des Museums im Zuge einer baulichen Erweiterung beteiligt. Für diese Aufgabe war er durch sein Studium der Kunstgeschichte und Museologie ideal vorbereitet und sein Forschungsinteresse kulminierte in seiner Dissertation ‘Museum, Photographie und Reproduktion. Mediale Konstellationen im Untergrund des Germanischen Nationalmuseums’ (2010) an der Universität Erfurt. Diese Arbeit bildete den Ausgangspunkt seines Vortrags.
Medientheoretische Ausrichtung
Dr. Ulfert Tschirner war zuvor Stipendiat — wie unsere letzte Gastrednerin Jana Mangold — des DFG-Graduiertenkollegs ‘Mediale Historiographien’. Dies ist insofern interessant, als dass Tschirners Fragestellungen über den Bereich der klassischen Museologie wie Kunstgeschichte hinausreichen. Medientheoretisch geprägt ist in seiner Ausarbeitung weniger die tatsächliche Sammlung des Germanischen Nationalmuseums Thema als deren medialen Grundlagen oder auch Zusätze. Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg nimmt in vielerlei Hinsicht eine Sonderstellung innerhalb der deutschen Museumswelt ein u. a. war es das erste Museum, dass neue Medien in seine Sammlung einbezog und zwar seit den 1850er Jahren, nämlich die Fotografie. Im folgenden sollte es im Vortrag, um das Wechselspiel zwischen Museum und Fotografie gehen. Interessanterweise sind sowohl die Fotografie wie auch das klassische Museum als öffentlich begehbare Sammlung Erfindungen des 19. Jahrhunderts.
Die erste offizielle Museumsfotografie
Im Juli 1853 fotografierte Charles Thurston Thompson einen venezianischen Spiegel aus der Sammlung des Museum of Ornamental Art in London (das heutige Victoria&Albert Museum). Diese Fotografie ist einem heutigen Selfie eines Museumsbesuchenden tatsächlich ähnlicher als einer dokumentarischen Objektaufnahme, wie sie innerhalb der Museologie üblich ist. Weniger der narzisstische Akt ist hier hervorzuheben (hierfür war die Kamera noch viel zu groß), als dass hier innerhalb des Mediums Fotografie deren Medialität mit reflektiert wird. Unter dieser Betrachtungsweise wirkt die Fotografie erstaunlich modern, da heute die klassische Museumsfotografie fast antiquiert scheint in ihrer Vortäuschung scheinbarer Neutralität in Zeiten material- und rezeptionsästhetisch betonter Interessen oder auch institutionskritischer Parameter. Wie ist diese frühe, mental als zeitgenössisch wirkende Fotografie zu erklären?
Fotografie — Museum — Politik
Um 1850 ist eine Epochenschwelle zu beobachten, die die Fotografie wie das Museum betraf. Eine Professionalität der Fotografie war gerade erst neu gefunden und es bedurfte ihrer Auslotung. Das Germanische Nationalmuseum sollte als eines der ersten deutschsprachigen Museen ein eigenes Fotoatelier bekommen (erste Pläne hierfür entstanden 1854, siehe Diss. S. 161). Auch die Institution Museum befand sich in ihrer Beta-Phase, insbesondere das Vorhaben ein Nationalmuseum zu kreieren, welches in Deutschland mit der Gründung des Nationalstaates zusammenfiel. Die Gründungsidee des Germanischen Nationalmuseums ging in ihrem Anspruch sogar noch weiter, so wollte sie gar eine ‘deutsch historische Nationalakademie’, eine Art Meta-Museum darstellen. Das Museum verfügte über keine zentralisierte Sammlung, so wie es in ganz Deutschland aufgrund der Geschichte der vielen eigenständigen Staaten keine zentrale Sammlung identitätsstiftender Objekte nationaler Geschichte gab. Aus der Not entstand die Idee der — heute wiederum modern wirkenden — Umdrehung der Hierarchisierung, in dem der Schausammlung mehr oder weniger gleichwertig neben den wenigen Originalobjekten, Fragmente hinzugefügt werden sollte. Mit Fragmenten ist alles Material gemeint, was zu einem bestimmten Objekt, das sich an einem anderem Ort befindet, zusammengetragen werden konnte, z. B. eine Fotografie, ein Kupferstich, eine Zeichnung des Originals oder auch mehrerer dieser Medien. Die Fotografie galt hier weniger als Reproduktionsmedium, sondern fungierte als dynamisches Medium der kongenialen Ergänzung zu den klassischen Kopie-Medien, wie dem Kupferstich oder dem Gipsabguss. Als systematischer Generalmotor dieser Ordnung diente jeweils eine Art Dateikarte mit den wichtigsten Objektinformation zu dem jeweiligen Kopienensemble. Leider blieben diese Versuche Visionen und kamen nicht über ihre ersten Ansätze hinaus. Grund hierfür war eine institutionelle Krise, die aus finanziellen wie interessenbedingten Ursachen resultierte.
Die erste Neuordnung als Grundlage der heutigen Sammlung
Der neuer Schwerpunkt sollte auf einer greifbaren Geschichtsnähe basieren und verabschiedete sich von der universalistischen Idee der Gründerzeit. Trotzdem fiel der Fotografie weiterhin eine wichtige Rolle zu. Zu den verschiedenen Schausammlungen sollte es jeweils eine Studiensammlung geben. In dem öffentlich zugänglichem Teil des Museums befanden sich also die Originale, wobei die Studiensammlung der Forschung zugedacht war, in der sich verschiedene Abbildungen der Originale und anderer Objekte zum Vergleich befanden. Die Abbildungssammlung galt als Modell zukünftiger Sammlungen. So war hier im Sinne des Imaginären Museums (André Malraux) eine Emanzipation zum klassischen Museum gegeben, indem verschiedene Objekte neu nebeneinander verglichen werden können. Auch wurde der Fotografie ein Eigenwert zugewiesen, da in diesem Medium bestimmte Objekteigenschaften ästhetisch deutlicher hervortraten.
Das verkannte Potenzial des Bilderrepertoriums
Leider löste sich die Studiensammlung schnell auf und ging in das sogenannte Bilderrepertorium über, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine Bedeutung verliert und sich heute `versteckt´ im Archiv des Museums befindet. Die Betonung des Museums liegt seither vollends auf der Zurschaustellung von Originalen. Die Rolle der Fotografie festigte sich zunehmend als bevorzugte Dokumentationsform. Wohingegen die ehemals der Kopie vorbehaltenen Medien Kupferstich, Zeichnung und Gipsabguss teilweise in die Sammlung `aufstiegen´, um ebenfalls in die Schausammlung integriert zu werden oder in eigens für sie geschaffenen Abteilungen wie dem Kupferstichkabinett landeten. Die Wiedereinführung eigener Fotografischer Ateliers zwischen 1910 und 1930, die jetzt nach strikten Regeln der Dokumentation und Inszenierung dienten, erfolgte zeitgleich mit einer neuen Museumsreform. Nach der Kritik an der Überfüllung von Museen, die eine Kontextualisierung forderte, ergab sich ein neuer Standard — der erst heute langsam in Frage gestellt wird — der Siegeszug der Vitrinen und weißen Wände.
Ausblick und Diskussion
Dr. Tschirner besprach anhand des Beispiels einer Fotografie des Taufbeckens aus dem Hildesheimer Dom, die Verschiebung der Betrachtungsmodi von einer Sakralie im Gebrauch, dem Original als Objekt (entkontextualisiert im Museum), dem Gipsabguss (erst als Kopie, später als Substitut für das Original) und der Fotografie des Originals und des Gipsabgusses (zuerst als Dokumentation, werden sie heute zunehmend als eigenes wertvolles kulturhistorisches Objekt gesehen). Auch wies er auf seinen eigenen Blickwechsel während seiner Forschungszeit hin, durch den er der Rückseite einer Fotografie aus dem Repertorium meist mehr Beachtung schenkte als der Vorderseite. In dieser Perspektive wurden Spurenmuster, wie Beschriftungen als Dokumentationshinweise, wichtiger als die eigentliche Abbildung. Dies brachte in unserer gemeinsamen Diskussion Fragen auf, die sich vor allem auf die zunehmende Bedeutung sekundärer Objektinformationen bezogen. Im Fokus des Interesses steht immer mehr die komplette Identität eines Objektes und nicht mehr nur die Aura des Originals, wobei diese auch nicht zu ersetzen ist. Im Hinblick auf die Fotografie waren wir uns einig, dass die klassische Museumsfotografie zwar noch nicht ausgedient hat, es allerdings ihrer Ergänzung bedarf, sei es in technischer Hinsicht (z. B. 3D, digitale Rundgänge) oder auch in ihrer Schwerpunkterweiterung (kuratorische Beweggründe abbilden, Blickachsen hervorheben, ganzheitliche Raumsituationen zeigen, Ausstellungsdesign beachten, Interaktion mit Besuchenden aufnehmen). Es bleibt spannend ob, die Entwicklungen von Fotografie, Museum und Nation weiterhin korreliert betrachtet werden können und wohin die Reise weitergeht.
Pingback: Am Limit: über die physischen Grenzen des Museums und seine Digitalisierung | Reproduktion & Methode
Pingback: Gedanken zur Dichotomie zwischen Original und Reproduktion | Reproduktion & Methode