„Eine neue Ära beginnt“, sagte eine gute Freundin von mir feierlich kurz vor dem Wintersemester 2014/2015. Wir hatten beide im Sommer Abitur gemacht und würden nun in Frankfurt studieren – sie Wirtschaftswissenschaft, ich Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft im Hauptfach und Empirische Sprachwissenschaft mit Schwerpunkt Skandinavische Sprachen im Nebenfach. Es kam mir damals so vor, als müsste ich schon ein kleines Referat halten, um meine Studiengänge nur zu nennen, und dann noch ein weiteres, wenn ich zu erklären versuchte, was das war und warum ich es studierte. Dabei war der Grund eigentlich recht simpel. Ich interessierte mich für Literatur und Sprachen, hatte die vage Vorstellung, eines Tages in einem Verlag zu arbeiten, und hatte bei meiner Recherche nach passenden Fachkombinationen herausgefunden, dass es noch mehr gibt als Germanistik, was die klassische Wahl gewesen wäre.
Jetzt ist die Ära vorbei, und in der Zwischenzeit hat sich einiges getan. Schon früh wechselte ich aus der Sprachwissenschaft komplett in die Skandinavistik, weil ich in den Vorlesungen merkte, dass mir Phonetik und Phonologie einfach nicht lagen. Ich lernte Dänisch und Altnordisch, schrieb Hausarbeiten, nahm an Exkursionen und Projekten teil, betrat das erste Mal den Fachschaftsraum, ging zu Vorträgen, lernte neue Leute kennen. Es folgte der erste Nebenjob als Kellnerin, als ich noch dachte, dass es zum Studium passende Jobs gar nicht gibt, zwei Erasmussemester in Aarhus ‒ als einzige mit Block und Stift zwischen dänischen Studierenden mit ihren Laptops ‒ noch nie zuvor hatte ich mich so deutsch gefühlt. Ausziehen, wieder einen Job finden, diesmal einen, der am Schreibtisch stattfand und zumindest ein bisschen mit dem Studium zusammenhing. Dann das Praktikum im Verlag, erste kleine Übersetzungsaufträge und der zusätzliche Job beim Edda-Kommentar, einem mediävistischen Forschungs- und Publikationsprojekt an der Uni. Die Bachelorarbeit war chaotisch, „so mache ich das nie wieder“, schwor ich mir und hielt dieses Versprechen tatsächlich auch. Ab in den Skandinavistik-Master, dann fing auch schon Corona an, drei Semester fanden in Deutschland vollständig online statt. Es entstanden das Institutsmagazin und der Imagefilm, zwei Romanübersetzungen, ich bekam den Job bei der wissenschaftlichen Zeitschrift NORDEUROPAforum, war in der Berufungskommission zur Neubesetzung einer Professur am Institut, zog wieder um, Prüfungsleistungen mussten irgendwo dazwischen untergebracht werden. Und plötzlich war es April 2024, ich meldete meine Masterarbeit an und gab sie sechs arbeitsintensive Monate später ab.
Das war der Schnelldurchlauf. Während ich diesen Absatz geschrieben habe, sind die letzten zehn Jahre meines Lebens wie ein Daumenkino vor mir durchgeblättert worden. Ich bin mir nicht sicher, warum ich nicht an einen Film, sondern an so ein kleines Heft denke. Vielleicht weil ich während des Studiums auch viel geblättert habe. Vielleicht weil in dieser Bilderabfolge die einzelnen Momente noch zu erkennen sind, sich bei Innehalten näher betrachten lassen, aber dennoch eine fließende Bewegung abbilden. Es ist seltsam, dann ein paar dieser Einzelbilder auswählen zu müssen, persönlicher zu werden als in einem tabellarischen Lebenslauf, aber doch nicht zu persönlich. Ich bin ja nicht Knausgård.
Am meisten fällt mir im Rückblick auf diese Zeit auf, wie ausschlaggebend kleine Entscheidungen sein können und wie viele Einzelteile sich – nicht selten wider Erwarten ‒ Stück für Stück zusammenfügen. Manchmal merkt man, wenn man eine große Entscheidung trifft, zum Beispiel bei der Wahl eines Studienganges, wenn man ins Ausland geht oder sich auf eine Stelle bewirbt. Oft merkt man es aber auch nicht. Als ich mich gegen Ende des zweiten Semesters endlich getraut habe, zu einem Spieleabend der Institutsgruppe zu gehen, hätte ich nicht damit gerechnet, ein paar Jahre später Studierendenvertreterin zu sein. Und als ich die ersten Kontakte mit Kommilitonen knüpfte, konnte ich auch nicht wissen, dass sich einige dieser Kontakte zu langjährigen Freundschaften entwickeln würden.
Außerdem beeinflussen Zufälle den Lauf der Dinge. Ursprünglich wollte ich den Schwedischkurs besuchen, musste dann aber Dänisch lernen, weil weder Schwedisch noch Norwegisch in meinen Stundenplan passten. Damals war ich erst einmal ein bisschen enttäuscht, weil ich mit Dänemark keine Berührungspunkte hatte – bis auf einen Sommerurlaub im Jahr 1996, an den ich mich nicht erinnern kann. Im Nachhinein war dieser „Zwang“ aber sehr wegweisend. Hätte ich Schwedisch statt Dänisch gelernt, hätte ich möglicherweise nicht an den dänisch-deutschen Übersetzungsprojekten teilgenommen und damit auch kein Buch übersetzt. Außerdem hätte ich auch andere Literatur gelesen und mit großer Wahrscheinlichkeit Dette burde skrives i nutid von Helle Helle verpasst. So wurde es der erste Roman, den ich auf einer skandinavischen Sprache gelesen habe.
Wenn ich an mein Studium denke, besonders an die ersten paar Semester, muss ich an diesen Roman denken. Es geht darin um eine junge Studentin, die nicht so richtig weiß, wohin mit sich. Wie in den meisten Romanen von Helle Helle geschieht viel, ohne dass man es sofort merkt. Die Ereignisse gehen ineinander über und erreichen einen indirekt, so wie auch die Protagonistin passiv durchs Leben geht. Ich kann mich nur noch an kleine Teile der Handlung erinnern, aber im Kopf geblieben ist mir die Stimmung. Obwohl ich mich eigentlich sehr von der Protagonistin unterscheide, konnte ich mich gut mit der Gefühlslage und der gesamten Atmosphäre, die in dem Roman herrscht, identifizieren – irgendwo zwischen S-Bahn-Haltestellen, Seminaren an der Uni und Doppelkeksen aus dem Supermarkt. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich beim Lesen etwas gespürt habe, das nichts direkt mit der Handlung zu tun hatte.
Erst, wenn ich das Daumenkino langsam durchblättere, merke ich, was ich eigentlich alles getan und erlebt habe. Dabei kam es mir während dieser Erlebnisse oft auch so vor, als würde ich mich vollkommen passiv verhalten und überhaupt nichts von Bedeutung tun. Nichts, was irgendwie besonders wäre. Das liegt womöglich an all diesen kleinen Entscheidungen und Taten, deren Ergebnis sich erst in der Summe aller Bilder so richtig zeigt.
In meinem Fall war das Studium damit auch eine schrittweise Entwicklung, die man vielleicht als „Erwachsenwerden“ bezeichnen könnte. In Helle Helles Roman heißt es an einer Stelle: „Jeg gik en tur hver eftermiddag. Jeg gik længere og længere ud ad landevejen, før jeg vendte rundt og gik tilbage.” (Ich machte jeden Nachmittag einen Spaziergang. Ich ging immer weiter die Landstraße entlang, bis ich wieder umkehrte.)
Auch ich bin während meines Studiums oft spazieren gegangen, sowohl tatsächlich als auch im übertragenen Sinn. Währenddessen hatte ich oft den Eindruck, nicht richtig voranzukommen, immer wieder stehenzubleiben oder sogar umzukehren. Retrospektiv merke ich nun aber doch, dass ich immer einige Meter weiter gelaufen bin. Zwar bin ich immer noch der gleiche Mensch wie vor Beginn des Studiums, aber es hat sich mit der Zeit doch viel mehr getan und verändert, als mir im jeweiligen Moment bewusst war. Es war ein prägender Zeitabschnitt, der mir gezeigt hat: Vermeintliches Stillstehen kann auch ein schrittweises Vorankommen sein.