Ein Grund, warum mir mein Studium der Literaturwissenschaften so viel Spaß macht, ist, dass ich mich immer wieder mit Autoren auseinandersetzen muss, die ich entweder noch nicht kannte, oder mit denen ich mich aus eigenem Antrieb wohl nur sehr gering beschäftigt hätte. Auf diese Weise haben schon viele Bücher ihren Weg in mein Regal gefunden, unter anderem auch Christa Wolfs Erzählung Was bleibt, von der ich bereits vor einiger Zeit auf diesem Blog berichtet habe. Im vergangenen Semester war es Jens Peter Jacobsen.
Natürlich war der Name nicht neu für mich, denn wenn man sechs Semester Dänisch studiert, kommt man darum kaum herum. Auch von seinem Hauptwerk, dem Roman Niels Lyhne (1880), hatte ich schon gehört. Im Rahmen eines Seminars über Pestliteratur kam ich dann zum ersten Mal in den Genuss, tatsächlich etwas von Jacobsen zu lesen, und zwar seine Novelle Die Pest in Bergamo (1882, dän. Pesten i Bergamo).
Jacobsen ist einer der namenhaftesten Schriftsteller des Modernen Durchbruchs. Diese Literaturepoche des späten 19. Jahrhunderts, die zum Ziel hatte, eine Literatur der Moderne zu schaffen und sich mit den Problemen der Gegenwart auseinanderzusetzen, wurde von einem Kreis radikaler Intellektueller um Georg Brandes ausgerufen. Zu ihnen gehörte auch Jens Peter Jacobsen, den Brandes persönlich als einen der Männer des Modernen Durchbruchs bezeichnete. In diesem Umfeld bekam Jacobsen die Möglichkeit, sich eine Identität als Dichter und Naturwissenschaftler aufzubauen.
Jacobsen wuchs in Thisted, Jütland, auf und zog mit fünfzehn für sein Studium der Botanik nach Kopenhagen. Er war der erste in seiner Familie, dem dieser hohe Grad der Bildung zukam. Die Botanik schulte sein Auge für die Details, was ihm später beim Schreiben zugutekommen würde. Jacobsen übersetzte unter anderem Charles Darwins Evolutionstheorie ins Dänische und verbreitete diese somit in seinem Heimatland.
Lange Zeit wusste Jacobsen nicht, wie er sein Interesse für die Dichtung mit dem für die Naturwissenschaft in Verbindung bringen konnte. In seinen früheren Schriften gelingt das weniger. Erst mit der Novelle Mogens (1872), seinem Durchbruchswerk, das gleichzeitig auch den dänischen Naturalismus begründet, gelingt ihm die literarische Darstellung seines naturwissenschaftlichen Weltbildes.
Inhaltlich gilt Jacobsen als einer der gefestigsten Schriftsteller des Modernen Durchbruchs. Niels Lyhne ist wohl der Roman des dänischen Naturalismus. Doch rein formal weicht Jacobsen gerne von den Vorgaben ab. So wurde sein erster Roman Frau Marie Grubbe (1876, dän. Fru Marie Grubbe) von Georg Brandes abgelehnt, weil die historische Handlung die Forderung nach der Aktualität der Literatur nicht erfülle. Auch Die Pest in Bergamo, einer der drei letzten Texte, die Jacobsen vor seinem Tod verfasst, ist in die Vergangenheit versetzt.
Doch gerade hier zeigt sich Jacobsens Detail-Verliebtheit. Denn er setzt nicht nur die Handlung einige Jahrhunderte zurück, sondern passt seine Sprache daran an. Für Frau Marie Grubbe betreibt er ausführliche Vorarbeiten und Recherchen. Er liest Zeitzeugnisse des 17. Jahrhunderts und fertigt umfangreiche Exzerpte an, um den Sprachton zu treffen. Auch in Die Pest in Bergamo ist die Sprache veraltet. Zudem wird das Thema der Novelle, die Verhandlung der Theodizee, mit geschickt eingefädelten Bibelzitaten gestützt.
Dass Jacobsen seine Sprache bewusst verwendet und formt, zeigt sich an den vielen Vorarbeiten und verworfenen Manuskripten, die der Veröffentlichung vorausgingen. Es ist ihm wichtig, sich nicht mit dem Erstbesten zufrieden zu geben. In einem Brief an Georg Brandes vom 02. Mai 1877 schreibt er: „Es war genau das, was ich damals begonnen habe, überall in der Literatur zu sehen, dass die ersten besten Ausdrücke nicht die besten waren, dass es nur einen besten Ausdruck gab, dem man mit Glück oder mit Fleiß mehr oder weniger näherkommen konnte – oder sogar ganz treffen konnte.“
Gerade in Die Pest in Bergamo zeigt sich Jacobsens Finesse im Stil. Nicht ohne Grund bezeichnet schon der einflussreiche dänische Literaturhistoriker Vilhelm Andersen (1864-1953) diese Novelle als Jacobsens „höchstes stilistisches Werk“, in dem er die „Kräfte seiner historischen Kunst auf die Spitze“* treibt. Über eine Archaisierung der Sprache hinaus passt Jacobsen die Syntax an die der mündlichen Sprache an. So werden lange Parataxen verwendet und viele Konjunktionen der mündlichen Sprache (und, oder, denn, da, als). Das wird bereits im ersten, einleitenden Satz der Erzählung deutlich.
„Da war Alt-Bergamo oben auf dem Gipfel eines niedrigen Berges, geborgen hinter Mauern und Toren, und da war das neue Bergamo unten am Fuße des Berges, allen Winden offen.“
Aus all diesen Gründen ist es verwunderlich, dass Die Pest in Bergamo von der Forschung bisher nur wenig Aufmerksamkeit bekam. Fast wirkt es, als wusste lange niemand, wie die Novelle zu deuten sei. Dabei müssten gerade Philologen Spaß an der Analyse eines Textes haben, bei dem so gut wie jedes Wort genau unter die Lupe genommen werden muss.
Im Jahr 2020 erschien im LIWI-Verlag eine Neuauflage einiger Jacobsens Novellen auf Deutsch mit dem Titel Die Pest in Bergamo. Diese Ausgabe enthält unter anderem die Erzählungen Die Pest in Bergamo und Mogens. Doch wurden diese Texte nicht neu übersetzt. Stattdessen wurden die Übersetzungen von Mathilde Mann aus dem frühen 20. Jahrhundert verwendet, die Jacobsens stilistischer Kunst leider nicht ganz gerecht werden. Dennoch ist diese Ausgabe zu empfehlen für alle, die sich ohne Kenntnisse des Dänischen mit Jacobsen vertraut machen wollen.
* „ypperste Stilværk“, „Kræfterne i sin historiske Kunst til det yderste“: V. Andersen: Illustreret dansk litteraturhistorie, Bd. IV, S. 222.