Letztens habe ich in einem alten Fotoalbum meiner verstorbenen Großeltern zwei Bilder gefunden, die mich als ungefähr dreijähriges Kind zeigen. Sie bilden die gleiche Situation ab, vermutlich wurden sie direkt nacheinander aufgenommen. Ich sitze auf dem Sofa und schaue mir ein Buch an. Mein Gesichtsausdruck deutet darauf hin, dass die Geschichte mich in ihren Bann gezogen hat, und das, obwohl ich noch weit davon entfernt war, lesen zu können. Unter den Fotos kommentiert die Handschrift meiner Oma: „Rebecca unterhält sich mit ihren Bilderbüchern …“
Laut meiner Mutter waren solche Szenen keine Seltenheit. Ich soll mir oft selbst „vorgelesen“ haben, entweder indem ich auswendig gelernte Geschichten nacherzählt habe – wobei durchaus noch Raum für kreative Freiheit war – oder indem ich sie mir einfach anhand der Bilder ausgedacht habe. Das Literaturinteresse war also schon frühzeitig vorhanden.
Somit war es eigentlich von Anfang an eine logische Konsequenz, eines Tages ein literaturwissenschaftliches Studium aufzunehmen. Unmittelbar nach dem Abitur war ich sowieso nicht in der Lage, meine Zukunft nach anderen Kriterien als reinem Interesse zu planen. Nun, über fünfundzwanzig Jahre nach meinen literarischen Selbstgesprächen im Kleinkindalter, sehe ich mich damit konfrontiert, dass ich mit einer vollkommen anderen Motivation lese als vor dem Studium und dass sich auch die Auswahl der Texte, die ich lese, grundlegend verändert hat.
Wenn ich einen Roman für die Uni lese, tue ich das mit dem Thema des Seminars im Hinterkopf. Ich erkenne Verknüpfungen zu anderen Texten, die ich aus dem Studium kenne, und frage mich: Was könnte man hier wissenschaftlich untersuchen?
Wenn es ein skandinavischer Roman ist, der noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde, habe ich immer auch ein nebenberufliches Auge darauf. Ich denke an mögliche Übersetzungsprobleme, an Verlage und Zielgruppen – urteile also mit dem potentiellen Interesse anderer im Sinn, obwohl ich anschließend diesbezüglich gar nicht unbedingt aktiv werde.
Selbst der Spagat zwischen wissenschaftlichem und berufspraktischem Interesse stellt schon eine gewisse Herausforderung dar, doch der zwischen Professionalität und Unterhaltung ist umso größer. Ich merke, dass es mir Semester um Semester immer schwerer gefallen ist, Literatur auf eine unbefangene Weise zu lesen, die kein „höheres Ziel“ verfolgt und einfach nur eine spannende Geschichte erleben will. Das ist sicher alles andere als ein seltenes Phänomen und auch auf anderen Gebieten verbreitet, in denen sich persönliche Faszination mit beruflichen Ambitionen kreuzt und nicht auf allen Ebenen miteinander übereinstimmt.
Auch die Gründe dafür sind verschieden, doch im Rückblick auf mein Studium fällt mir auf, dass ich mich mit der Zeit von der sogenannten Trivialliteratur entfernt habe, weil sie mir peinlich war, und weil ich das Gefühl hatte, mich rechtfertigen zu müssen, wenn ich sie trotzdem lese. Besonders lebhaft erinnere ich mich daran, als ich im ersten oder zweiten Semester eine Freistunde in der Bibliothek verbrachte und dort, anstatt mich auf das nächste Seminar vorzubereiten, den dritten Band der Eragon-Reihe weiterlas – ganz ohne wissenschaftliches Interesse, einfach nur so. Plötzlich fiel mir auf, dass ich die Einzige im Raum war, die sich die Zeit mit einem Freizeitbuch vertrieb. Alle anderen schienen in philosophische Abhandlungen oder komplexe Forschungsströmungen vertieft zu sein. Wie lächerlich war es da, ein simpel geschriebenes Buch über einen Jungen zu lesen, der auf einem Drachen durch die Gegend fliegt? Ich war doch schon fast zwanzig Jahre alt, und dazu noch Studentin der Vergleichenden Literaturwissenschaft und Skandinavistik! Das war doch total kindisch! Und so unwissenschaftlich!
Eine Weile habe ich das Buch trotzdem noch mit zur Uni genommen, allerdings den Schutzumschlag entfernt, damit man zumindest nicht auf den ersten Blick sehen konnte, dass ich es offenbar noch nicht geschafft hatte, mich zur „richtigen“ und „wertvollen“ Literatur hochzuarbeiten. Irgendwann blieben solche Bücher dann komplett zu Hause und irgendwann habe ich sie überhaupt nicht mehr gelesen. Sogar Stephen King, der lange mein absoluter Lieblingsautor gewesen war, wurde irgendwann nicht mehr angerührt.
Ich bin mir nicht sicher, ob es daran lag, dass mir diese Geschichten wirklich nicht mehr gefallen haben oder ob ich mich nur zu sehr dafür geschämt habe, dass sie mir trotz des Studiums immer noch gefielen. Letzteres wäre auf jeden Fall ein äußerst schlechter Grund gewesen. Man sollte darüberstehen, wenn einem etwas gefällt, sich von elitärem Denken nicht den Spaß verderben lassen. Vielleicht kam der Elitarismus auch gar nicht so sehr von außen, wie ich damals dachte, sondern aus der Unsicherheit einer Studienanfängerin heraus, die sich elitär gegenüber sich selbst verhalten hat. Heute weiß ich, dass mich niemand zu dieser Entwicklung gezwungen hat, und trotzdem ist es sehr lange her, seit ich zuletzt ein Buch zur reinen Unterhaltung gelesen habe.
Vielleicht sollte ich das bald mal wieder tun und mich daran erinnern, dass es mir als Dreijährige auch ganz egal war, was andere über mich denken, wenn ich mich mit meinen Bilderbüchern unterhalte.
Lest ihr in eurer Freizeit zur reinen Unterhaltung? Hattet ihr schon einmal das Problem, euch für die Auswahl eines Buches rechtfertigen zu müssen – oder fällt es euch leicht, zu euren Lesevorlieben zu stehen?