„Ist es denn niemandem aufgefallen […] wie sehr diese ganze Gruppierung einem Gemälde in Florenz ähnelt, das dort in einer der Galerien hängt? Es ist die erste Nacht des Dekamerons.“ [eigene Übersetzung]
Mit diesen Worten bindet Vilhelm Bergsøe seinen Novellenzyklus Fra Piazza del Popolo (1866, dt. „Von der Piazza del Popolo“) in den Kontext der Pestliteratur ein, denn hier wird innerhalb der Erzählung ein direkter Bezug auf Giovanni Boccaccios Das Dekameron (orig. Il Decamerone, 1353) hergestellt. Seuchenerzählungen gibt es schon so lange, wie es Seuchen gibt. Sie sind also kein neues Phänomen. Durch die Corona-Pandemie ist das Interesse an diesen Texten jedoch wieder neu angefacht worden.
Im Wintersemester 2022/23, sowie im Sommersemester 2023 habe ich als Teil meines Masterstudiums in der Komparatistik ein Seminar zur sogenannten Pestliteratur besucht. Im Seminar haben wir uns verschiedene Pestliterarisierungen angeschaut: Angefangen bei Homers Ilias, über Mary Shelleys The Last Man (1826), Edgar Alan Poes King Pest (1835) und Jens Peter Jacobsens Pesten i Bergamo (1881) bis hin zu Rainer Maria Rilkes Der Totengräber (1901) und Albert Camus‘ La Peste (1947). In einer Hausarbeit für dieses Seminar habe ich untersucht, wie sich Bergsøes Novellenzyklus zum Dekameron und somit zur Pestliteratur verhält. Vor allem aus einer komparatistischen Perspektive ist Seuchenliteratur spannend, denn kaum etwas ist so universal wie Seuchen, wie nicht zuletzt auch die Corona-Pandemie bewies. Deshalb habe ich mich besonders gefreut, die skandinavische Literatur, die in der Komparatistik wenig beachtete skandinavische Literatur in diesen Diskurs einzubringen.
Das Dekameron ist eine Novellensammlung, die die europäische Literatur und Kultur stark prägte. Die Erzählung, in die 100 Binnenerzählungen eingebettet sind, beschreibt den Pestausbruch in Florenz im Jahr 1348. Im Zentrum der Handlung stehen zehn Figuren, sieben junge Frauen und drei Männer, die vor der Pest gemeinsam auf das Land fliehen und sich dort die Zeit vertreiben, indem sie sich Geschichten erzählen.
Bergsøe greift diesen einflussreichen Text in Fra Piazza del Popolo nicht einfach nur auf, sondern er unternimmt einen Versuch, ihn umzuschreiben. Das beginnt mit den relativ auffälligen Parallelen in der Erzählkomposition beider Texte: Sie erzählen von einer Gruppe, die an einem Ort festsitzt, um einer Gefahr zu entkommen – bei Boccaccio ist das die wortwörtliche Pest, bei Bergsøe sind es Räuberbanden, die Rom belagern und allegorisch als „Roms Pest“ bezeichnet werden. Während die Figuren auf eine Veränderung der Umstände warten, erzählen sie sich gegenseitig Geschichten. Durch diesen Erzählakt erzeugen sie eine Art Raum-Zeit-Autonomie, die von den Geschehnissen um sie herum abgekoppelt ist.
In der Schilderung der Seuchen finden sich weitere Parallelen der beiden Werke. So beziehen sich sowohl Bergsøe als auch Boccaccio auf einen historischen Seuchenausbruch, der auch direkt im Text konkret raum-zeitlich verortet wird. Auch verwenden beide Texte eine kriegerische Metaphorik, um die Seuche zu beschreiben, wobei Fra Piazza del Popolo hier um einiges weiter ausholt.
Doch in Fra Piazza del Popolo wird nicht nur eine allegorische Seuche beschrieben. In der ersten Binnenerzählung „Tordenskyen“ (dt. Gewitterwolke), die als „eine Einleitung zum neuen Dekameron“ [eigene Übersetzung] verstanden werden soll, wie es im Novellenzyklus selbst gesagt wird, erzählt eine der Figuren, der Arzt Aabye, vom Choleraausbruch in Kopenhagen 1853, den er selbst miterlebt hat. Die Seuchenbesprechung wird hier also von der Ebene der Rahmenerzählung auf die der Binnenerzählung verschoben, ein weiterer Aspekt der Umschreibung des Dekameron.
Darüber hinaus liegt dem Dekameron noch ein göttliches Krankheitsverständnis zugrunde: Der Erzähler nennt zwei mögliche Ursachen für den Pestausbruch, zum einen die Einwirkung der Himmelskörper, zum anderen eine Strafe Gottes. Dahingegen sind die Vermutungen über den Ausbruch der Cholera bei Bergsøe auch mit unseren heutigen Kenntnissen über diese Krankheit in Einklang zu bringen: Als Ursache werden vor allem die mangelnde Hygiene, die Verschmutzung der Stadt und das Zusammenleben vieler Menschen auf engem Raum genannt. Es wird in diesem Zusammenhang auch auf die Klassenunterschiede verwiesen: „Das ist eine Proletariatskrankheit, die es nicht wagt, Konferenzräte anzugreifen.“ [eigene Übersetzung] Die Schilderung der Cholera ist hier also mehr als nur ein Tatsachenbericht, es ist vor allem die Anklage eines politischen Versagens.
Trotz dieser Unterschiede und der Tatsache, dass in Fra Piazza del Popolo ein Choleraausbruch beschrieben wird, steht der Novellenzyklus also in der Tradition der Pestliteratur: durch den Bezug auf eines der einflussreichsten pestliterarischen Werke, durch dessen Umschreibung und durch die Anknüpfungspunkte an diesen Text.
Obwohl Pestliteratur kein neues Phänomen ist, ist sie während der Corona-Pandemie wieder in den Fokus gerückt. Die Pest wird in der Literatur immer in Folge von Seuchenausbrüchen präsent und so können wir wohl auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten mit literarischen Thematisierungen von der Pest und anderen pandemischen Krankheiten rechnen.