Adda Ravnkilde, Georg Brandes und das literarische Patriarchat

Seit 2018 betreibt die Autorin, Übersetzerin und Herausgeberin Nicole Seifert ihren Literaturblog Nacht und Tag, auf dem sie aktuelle und wiederentdeckte Literatur von Frauen bespricht und vorstellt. In ihrem Buch Frauen Literatur (2021) beschäftigt sie sich mit der geschlechtsbedingten Ungleichheit in der Literatur auf Seiten von Produktion und Rezeption. Sie nennt Emily Brontës Roman Sturmhöhe (orig. Wuthering Heights, 1847) als eines von vielen Beispielen, wie Frauen im Literaturbetrieb diskriminiert werden. Dieser erschien zunächst unter dem Pseudonym Ellis Bell. Seifert beschreibt einen Unterschied in der Besprechung des Romans vor und nach der Erkenntnis, dass dieser aus der Feder einer Frau stammt:

Erstere lobten Inhalt, Sprache und Moral von ‚Ellis Bell‘, beim selben Roman von Emily Brontë wurden die Jugend und beschränkenden Lebensumstände der Autorin herausgestellt sowie die ‚femininen‘ Attribute des Textes. Der Autor Bell wurde mit einem rauen Seemann verglichen, die Pfarrerstochter Emily mit einem flatternden und bald erschöpften Vogel im Käfig. Das macht besonders deutlich, was die Literaturwissenschaft auch an anderen Beispielen belegt hat: Im neunzehnten Jahrhundert wird Literatur von Frauen zuallererst nach biografischen Prämissen beurteilt.

Aber nicht nur in der Art der Besprechung zeigen sich Unterschiede, auch in der Tatsache, ob Texte überhaupt besprochen und in den Kanon aufgenommen werden. Das wird deutlich an Gabriele Reuters Roman Aus guter Familie (1895), der zeitgleich mit Theodor Fontanes Effi Briest (1895) erschien und eine ähnliche Thematik behandelt: In beiden Romanen geht es um eine junge Frau, die an den gesellschaftlichen Ansprüchen und Verhältnissen scheitert und zugrunde geht. Beide Romane wurden zeitgenössisch positiv rezensiert und mehrfach aufgelegt. Doch während Effi Briest bis heute in deutschen Schulen gelesen wird, ist Aus guter Familie in Vergessenheit geraten, bzw. verdrängt und unberechtigterweise nicht in den Kanon aufgenommen worden. Überhaupt wird im Blick auf den Literaturkanon deutlich, dass Frauen und deren Texte dort nur eine sehr geringe Rolle spielen. Texte von Frauen werden – genauso wie Texte anderer marginalisierter Gruppen – aus dem Literaturkanon ausgeschlossen. Das Gegenargument, dass ja Schriftstellerinnen wie die Brontë-Schwestern und Jane Austen bis heute weltweit fast jährlich neu aufgelegt werden, wirkt lächerlich angesichts der vielen Männer, die diesen Frauen allein in der britischen Literaturgeschichtsschreibung gegenüber stehen. Dass Frauen vom literarischen Kanon ausgeschlossen werden, ist ein nicht zu widerlegender Fakt. Es ist daher wichtig, dass wir bewusst Texte von Frauen lesen, auch ältere Texte. Die Literaturwissenschaft muss sich mit diesen Texten beschäftigen, denn nur so entsteht das Interesse und die Nachfrage nach einer Neuauflage dieser Texte.

Seiferts Buch war für mich ein Weckruf. Erst dadurch wurde mir rückblickend bewusst, wie wenig Literatur von Frauen ich im Rahmen meines Abiturs und meines Literaturstudiums gelesen hatte. Die Zustände, die Seifert hinsichtlich ihres eigenen Literaturstudiums in den 90er Jahren beschreibt, treffen so auch noch auf mein Studium fast dreißig Jahre später zu. Es hat sich nur sehr wenig verändert: Zwar gibt es jetzt einige Seminare, die auch ganz bewusst Texte von Frauen in den Fokus rücken, aber diese Veranstaltungen musste ich mir gezielt raussuchen. Es war für mich daher eine Herzensangelegenheit, meine Masterarbeit über Literatur von Frauen zu schreiben. Die Wahl fiel auf Reuters Aus guter Familie und Adda Ravnkildes Judith Fürste (1884).

Aus guter Familie ist seit der Wiederentdeckung in den 90er Jahren bereits relativ gründlich erforscht worden,Judith Fürste dagegen erfährt in der Literaturwissenschaft bis heute nicht die verdiente Aufmerksamkeit. Der Roman handelt von einer jungen Frau, die vergeblich um ihre Unabhängigkeit kämpft und sich am Ende doch in ihre untergeordnete Rolle im Patriarchat fügen muss. Die einzige Wahl, die ihr bleibt, ist, wem sie sich unterordnen möchte: ihrem Stiefvater, einem Ehemann oder der Armut.

Der Roman ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Texte von Frauen bis heute weniger und anders besprochen werden als Texte von Männern. Ravnkildes Werk wurde posthum von Georg Brandes veröffentlicht. Judith Fürste hat er dabei mit einem Vorwort versehen, in dem er jedoch kaum über den Roman selbst spricht, sondern zunächst nur über die Autorin und ihr Leben:

Gegen Ende des Monats kam ein junges Mädchen, das es [das Manuskript] abgegeben hatte. Sie war natürlich, ernst, 21 Jahre alt, mit klugen und hellen Augen. Der Blick hatte etwas Geistiges und Kühnes. Über der Figur, die in dem dunklen Anzug recht damenhaft wirkte, deren Haltung aber nicht sehr selbstbewusst und frei war, schwebte etwas, das auf einen frühen Kampf und Kummer, eine schwierige Situation oder Ähnliches hindeutete. [eigene Übersetzung]

Erst nach dieser Beschreibung der Autorin, die Spekulationen über ihre Vergangenheit enthält, widmet er sich dem Werk, wobei die Besprechung sich auf den Inhalt der Texte beschränkt und nicht etwa auf die literarische Gestaltung.

Die Publikation von Judith Fürste ist auch von Brisanz. Georg Brandes entschied sich dazu, von den drei ihm hinterlassenen Manuskripten nur eines zu veröffentlichen. Die Romane Tantaluskvaler und En Pyrrhusseijr handeln von Künstlerinnenschicksalen und wurden nicht von Brandes, sondern erst etwas später von Erik Skram in einem Band unter dem Titel To Fortællinger (1884, dt. „Zwei Erzählungen“) veröffentlicht. Es geht mit Brandes‘ Programmatik einher, dass er sich dazu entschied, Judith Fürste zu veröffentlichen, nicht aber die beiden anderen Texte. Denn Judith Fürste kann durchaus als Liebesgeschichte verstanden werden. Brandes war für seine Zeit zwar durchaus progressiv und unterstützte die gegen Ende des 19. Jahrhunderts stärker werdenden Frauenbewegungen. Allerdings vertrat er die Ansicht, dass Frauen zur Kunstschaffung nicht fähig seien. So bespricht er in Det Moderne Gennembruds Mænd (1883, dt. „Die Männer des Modernen Durchbruchs“), wie der Titel bereits ausdrückt, ausschließlich männliche Schriftsteller. Schriftstellerinnen konnten seiner Programmatik zur Folge lediglich über die Liebe schreiben.

Scan des Covers von der deutschen Übersetzung des Romans "Judith Fürste"
Cover der deutschen Ausgabe (übersetzt von Mathilde Mann) von Judith Fürste.

Auch die Autorschaft muss bei Adda Ravnkildes Texten hinterfragt werden. Von den Manuskripten sind nur Bruchteile erhalten, doch das reicht, um festzustellen, dass alle drei Romane vor der Publikation stark bearbeitet wurden. Tantaluskvaler und En Pyrrhusseijr wurden von Erik Skram von ca. 500 auf ca. 200 Seiten gekürzt. Bei Judith Fürste wurden zudem inhaltliche Änderungen vorgenommen, wie Pil Dahlerup in ihrer Dissertation Det moderne gennembruds kvinder (1983, dt. „Die Frauen des Modernen Durchbruchs“) feststellt. Aufgrund der Unvollständigkeit des Originalmanuskriptes lassen sich nicht alle Änderungen nachvollziehen, die erhaltenen Textstellen lassen im Vergleich zum veröffentlichten Roman jedoch darauf schließen, dass der Roman tiefgreifend verändert wurde. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob man im Hinblick auf Judith Fürste überhaupt noch von Ravnkildes Roman sprechen kann, oder ob nicht eigentlich Georg Brandes Verfasser dieses Textes ist. Dass in den Text einer verstorbenen Person so massiv eingegriffen wird, scheint im Hinblick auf männliche Autoren unvorstellbar. Man stelle sich nur vor, bei der posthumen Veröffentlichung von Kafkas Romanfragmenten wären solche Umarbeitungen vorgenommen worden.

Zwar wurde Judith Fürste noch im Erscheinungsjahr ein weiteres Mal aufgelegt und schien unter Zeitgenossen Anklang zu finden, doch ist von dieser Popularität nichts mehr übrig. Es gibt seit 1884 keine Neuauflage mehr und bis heute hat sich die Literaturwissenschaft nicht mit dem Roman auseinandergesetzt, obwohl er ein relevanter Text des Modernen Durchbruchs ist und viele Themen dieser Epoche aufgreift.

Welches Werk von einer Frau sollte deiner Meinung nach mehr Aufmerksamkeit bekommen bzw. in den Literaturkanon aufgenommen werden?

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