Am Limit: über die physischen Grenzen des Städel Museums und seine Digitalisierung

Wohl kaum ein anderes deutsches Museum erlebt im Moment eine ähnliche Transformation wie das Städel Museum in Frankfurt. Nicht nur seine Entwicklung hin zu einem Museumsbetrieb nach amerikanischem Vorbild, sondern auch die digitale Erweiterung wälzen die Institution momentan um. Anna Huber aus der Abteilung für Bildung und Vermittlung des Städel Museums war zu Gast in unserem Seminar und berichtete von den aktuellen Veränderungen. Reflexionen über die Diskussion.

Der Anfangspunkt der Geschichte der digitalen Erweiterung im Städel ist wahrscheinlich die Dürer-Ausstellung im Herbst 2013. Die Besucherschlange führte damals dutzende Meter weit den Schaumainkai entlang, so dass klar war: die Aufnahmefähigkeit des Peichl-Baus ist ausgereizt. Für die nächste Blockbuster-Ausstellung ließ man sich etwas einfallen, das nicht nur die gefühlte Wartezeit in der Schlange verkürzen sollte, sondern auch das Museum ausweitete, das an seine physischen Grenzen gestoßen war. Der reale Ausstellungsraum wurde um den digitalen Raum erweitert. Die Idee des Digitorials war geboren und wurde für die Monet-Ausstellung im 200. Jubiläumsjahr des Museums umgesetzt. Das Museum ließ sich das Konzept des digitalen Appetizers auf Ausstellungen gleich patentieren. Seitdem spricht man von der „digitalen Erweiterung“  des Museums. Die Wahl des Begriffs „Erweiterung“ entspricht den Absichten des Museums, das bewusst keinen Ersatz für den Museumsbesuch schaffen will, sondern ein erweitertes Angebot bereitstellen möchte. Darunter fallen u. a. das genannte Digitorial, die digitale Sammlung, und Online-Kunstgeschichtskurse. Hier stellte sich einigen Seminarteilnehmer_innen die Frage, inwiefern überhaupt von einer Erweiterung die Rede sein kann und ob das Angebot des Städel nicht auch vielleicht etwas anderes bedeutet.

Digitale Erweiterung oder digitaler Schwellenraum?

Das Städel Museum erklärt selbst, mit seinem digitalen Angebot vor allem dem „Bildungs- und Vermittlungsauftrag der Institution“ nachzukommen und damit ihren „Wirkungsraum“ zu erweitern (s. das Mission Statement des Museums). Dies findet vor allem dort statt, wo das von der Institution produzierte Wissen leichtverständlich aufbereitet wird. Das Digitorial zum Beispiel bietet die Möglichkeit, die Narration einer Ausstellung im individuellen Tempo nachzuvollziehen. Im Museum hat man hierfür nicht immer die Muße, da man sich eher dem Rhythmus des Besucherstroms anpassen muss. Die Erweiterung im Zeichen der Bildung hilft also auch, die angesprochenen physischen Beschränkungen des zunehmend überfüllten Museums aufzuheben.

Mit seiner Bildungsmission schafft das Städel Museum aber auch einen digitalen Schwellenraum, der der Institution vorgelagert ist und über öffnende und verschließende Eigenschaften zugleich verfügt. Zwar werden User an einen Museumsbesuch herangeführt, gleichzeitig kann so eine gigantische digitale Apparatur, wie sie das Städel Museum kreiert, auch Schwellenängste aufbauen. Zunächst zur Öffnung des Museums: In jüngster Zeit war es möglich, neue Zielgruppen an einen Museumsbesuch heranzuführen. Immer mehr jüngere und männliche Personen, die einem Museumsbesuch klassischerweise eher fern stehen, wurden mit dem digitalen Angebot angesprochen. Die Besucherzahlen berechnen sich neuerdings nicht ausschließlich aus den rein physischen Besuchern. Auch die digitalen Besucher werden in den Statistiken des Museums berücksichtigt (weshalb der „normale“ Museumsbesuch nun in der Rhetorik der Institution unter dem wunderschönen Begriff „Analogbesuch“ firmiert). Die Besucherzahlen steigen also, obwohl das analoge Museum längst am Limit ist. Hier hilft der digitale Schwellenraum der Statistik nach, wenn er als Teil des Museums begriffen wird. In einer auf dem Museumsmarkt längst angekommenen „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München 2007) wird das Städel Museum so zum Gewinner in der Konkurrenz um möglichst hohe Besucherzahlen.

Wie verändert das digitale Angebot die Wahrnehmung des Museums und der Exponate? Natürlich lässt sich immer auf der einen Seite argumentieren, dass durch eine breite digitale und kostenfreie Distribution Inhalte demokratisiert werden. Hier ist das Städel Museum vielen öffentlichen Museen erfreulicherweise um Längen voraus. Doch gleichzeitig wird das Museum durch eine gewaltige vorgelagerte Masse an Bildungsangeboten zu einem Ort, den wir ohne Vorbildung zu betreten bald schon fürchten könnten. Hier ein Onlinekurs, da ein vorbereitendes Filmchen – wenn man das alles nicht wahrnimmt und sich zu den rein „analogen“ Besuchern zählt, fühlt man sich geradezu unvorbereitet. Das Museum wird so zu einem Bildungsort sui generis und verlässt sein klassisches Aufgabenfeld des Sammelns und Bewahrens – es ist kein Musentempel mehr sondern ein Tempel der Bildung. Und diese Verlagerung bedeutet die Produktion neuer Schwellenängste. War es im Museum alter Zeit das fehlende bildungsbürgerliche Bewusstsein, das Menschen vom Museumsbesuch abhielt, könnte es in Zukunft die Angst vor einer nicht bewältigbaren Lernaufgabe sein, die durch den aufgebauschten Vermittlungsapparate generiert wird.

Das Museum als Ereignisort

Max Hollein äußerte erst kürzlich dem art-Magazin gegenüber, dass die Aura eines Kunstwerks erwiesenermaßen durch digitale Angebote nicht geschwächt werde. Angesichts der Vermittlungsoffensive des Städel Museums kann man sagen: Das Museum als Ort des Lernens und die Kunstwerke als Lerninhalte werden durch das massive Bildungsprogramm immer noch, aber auf neuem Wege, auratisiert. Sie werden umso unnahbarer, je mehr Lernlevel und Lektionen ihnen vorgelagert werden. Man sehnt sich die Besichtigung des Originals umso mehr herbei, je zeitintensiver man sich darauf vorbereitet. Nicht die Kontemplation vor dem Original steht im Vordergrund, sondern das Ereignis, wenn man endlich die gelernten Inhalte auf das Original anwenden kann. Wie man das Original zu betrachten hat, kann man sich im Vorhinein durch Animationstechnik aneignen. Das Digitorial zoomt auf die Lichtreflexionen in Claude Monets La Grenouillère, die Bäume auf Alfred Sisleys Ufer der Seine im Herbst biegen sich hin und her, um ein Gefühl für die Bildkomposition zu vermitteln. In diesem Punkt begrüßt man die radikale Ehrlichkeit der Einführungskurse. Das Sehen von Kunstwerken war noch nie unvoreingenommen und fand immer vermittelt statt. Durch die deutliche Inszeniertheit der Sehanweisungen in digitalen Lernprogrammen liegt dies nun endlich offen.

Das Paradox der digitalen Erweiterung

Der analoge und ereignishafte Besuch bei den Originalen bleibt also Dreh- und Angelpunkt der Digitalisierung am Städel Museum. Hollein erklärt, er wolle kein digitales Substitut entwickeln. Doch die aktuellen (analogen) Besucherzahlen lassen für einen Zuwachs keinen Spielraum mehr. Auch sind die Exponate durch die klimatischen Bedingungen, die durch hohe Besucherzahlen entstehen, einem konservatorischen Risiko ausgesetzt, sodass unter diesem Gesichtspunkt ebenfalls kein weiterer Zuwachs gewünscht sein kann. Einerseits erklärt das Digitalisierungsprogramm des Städel Museums den physischen Besuch für unersetzbar, muss aber die Erfahrung des Originals in Zukunft zwangsläufig auslagern, will es weiterhin einen Zuwachs an (digitalen) Besucherzahlen verbuchen. Dies hat entscheidende Konsequenzen für den Stellenwert des Originals. Das Digitalisat muss in Zukunft eine Aufwertung erfahren, wenn das analoge Original nur noch begrenzt zugänglich ist. Das Museum rückt somit wieder in die Nähe einer seiner Ursprungsorte. Am Germanischen Nationalmuseum wurde etwa , wie Ulfert Tschirner gezeigt hat, bereits zu seiner Gründungszeit den Originalen und Reproduktionen derselbe Stellenwert zugesprochen.

Wer kuratiert?

Doch nicht nur die Wahrnehmung des Originals erfährt durch die Digitalisierung einen fundamentalen Wandel, auch das Berufsbild des Kurators ändert sich maßgeblich. Die Kuratoren büßen ihr Deutungsmonopol ein, wie Hanno Rauterberg in der ZEIT in einem Artikel über das Städel Museum bemerkt. Doch kann man sich die Frage stellen, ob dies tatsächlich durch eine Ermächtigung der Besucher geschieht, die „das Museum anders und auf selbstbestimmte Weise […] durchstreifen“. Rauterbergs Sicht auf das digitale Städel Museum ähnelt Peter Weibels hoffnungsvoller Vision eines Museums, das partizipatorische digitale Räume erschließt, in denen Kurator_innen und User sich gleichberechtigt begegnen. Im Städel Museum aber bahnen sich digitale Besucher mithilfe von Begriffen und Assoziationen, die vom Museum vorgegeben werden, einen Weg durch die Sammlung. Die Userin kann diesen Schlagworten keine eigenen hinzufügen. Genauso wie im realen Ausstellungsraum ist es auch im digitalen Raum wieder die Institution, die den Besucher an die Hand nimmt und die Deutungshoheit über die Verknüpfung der Werke beibehält. Doch wer kuratiert dann hier eigentlich? – fragten wir uns im Seminar. Während das Kuratieren bisher ein Aufgabenfeld der Sammlungsleiter_innen war, könnten beim Kuratieren im digitalen Raum, wie es zum Beispiel auf der Sammlungsplattform des Städel Museums stattfindet, zunehmend Kunstvermittler und Informatikerinnen an Mitspracherecht gewinnen. Durch die neue Relevanz dieser Tätigkeitsfelder für Kunsthistoriker_innen entstehen völlig neue Berufsbilder. Am Städel Museum zeichnet sich somit nun auch innerhalb Deutschlands eine Entwicklung ab, die so beispielsweise in den USA bereits im vollen Gange ist. Nicht zuletzt deshalb ist das Städel Museum eine Institution deren Entwicklung zu beobachten weiter spannend bleibt.

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Eine Antwort zu Am Limit: über die physischen Grenzen des Städel Museums und seine Digitalisierung

  1. lscheidt sagt:

    Mag über die digitale Erweiterung des Städelmuseums auch bezweckt werden, eine steigende Anzahl der analogen Besucher im Museum zu verhindern und stattdessen den Zuwachs durch neue Bildungsangebote auf eine digitale Ebene zu verschieben, so stimme ich zu, dass die Kontemplation vor dem Original immer unwichtiger zu werden scheint. Sie scheint nicht nur durch die vielen vom Original ablenkenden Museumtools – seien es digitale Panels oder Apps – sondern auch durch die Erlaubnis von Selfisticks und Fotografieren nebensächlich geworden zu sein. Auch wenn, und dem stimme ich Max Hollein und annabelru ebenfalls zu, die Aura des Kunstwerks keinesfalls geschwächt wird. Die Beschäftigung mit dem Kunstwerk verschiebt sich auf das Digitale. Doch wie kann im digitalen Zeitalter das Museum erstens gegen die nach wie vor bestehenden Vorwürfe, es sei konservativ und nicht zeitgemäß, digital mithalten und zweitens dem originalen Kunstwerk gerecht bleiben? Das Rijksmuseum Amsterdam bietet einen Ansatz die Aufmerksamkeit der Besucher – wenn auch nur kurz – auf das Original zu schüren. Die neue Aktion #Startdrawing versucht, die direkte Auseinandersetzung vor dem Original mit dem digitalen Ereignis zu verbinden. Über ihre Internetseite ruft das Museum zur Aktion auf, statt Kunstwerke zu fotografieren, abzuzeichnen. Diese Zeichnungen können dann von den Besuchern unter dem Hashtag #Startdrawing auf Instagram veröffentlicht werden. Das Rijksmuseum versucht zwar auch über digitale Elemente den physischen Ort des Museums zu erweitern, erzeugt beim Besucher aber die Erinnerung an eine unmittelbare Beschäftigung mit dem Original vor Ort.

    https://www.rijksmuseum.nl/en/startdrawing/draft%20book

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