Ich würde gerne mal wieder in den Urlaub fahren. Allerdings sehne ich mich nicht nach fernen Ländern, sondern nach fernen Zeiten. Zwar bin ich verhältnismäßig zufrieden mit der Zeit, in der ich lebe, aber zumindest einen Besuch abstatten würde ich der Vergangenheit gerne. Wie wäre das, wenn man einfach mal ein paar Tage in einem anderen Jahr verbringen könnte? Eine Woche Urlaub in den Neunzigern oder ein Wochenende im Mittelalter? Ich wäre gerne ein Zeittourist.
Hinter dieser Vorstellung steckt kein historisches Interesse. Sicher wäre es spannend, große geschichtliche Ereignisse live mitzuerleben, aber es rührt sich nichts in mir, wenn ich an solche Begebenheiten denke. Lieber würde ich meinen Heimatort in den Jahren meiner Kindheit besuchen, nachschauen, ob wirklich alles so aussah, wie ich heute denke, mir Vergessenes wieder in Erinnerung rufen. Ebenso wäre eine Reise an Orte interessant, von denen mir meine Eltern oder Großeltern erzählt haben – zum Beispiel die Bar, in der mein Opa während seines Studiums in den Fünfzigern oft Zeit mit Freunden verbrachte. Wie war die Stimmung dort und worüber haben die jungen Studenten sich damals unterhalten? Die Wahl meines Reiseziels wäre immer persönlich.
Ich merke, dass hinter alldem eine Form von Nostalgie steckt – eine Art Heimweh nach einer vergangenen Zeit. Zeitweh? Heutzutage wird unter Nostalgie die Sehnsucht nach etwas Vergangenem verstanden, die allerdings auch von Idealisierung geprägt ist. Sie kann unter anderem aus Unzufriedenheit entstehen – dann ist sie eine Gegenwartsflucht in eine Zeit, in der vermeintlich alles besser und einfacher war.
Meine Nostalgie enthält auch das Bewusstsein, dass keine Zeit in jeder Hinsicht besser war als die heutige. Ich würde an keinem meiner Reiseziele bleiben wollen. Die Nostalgie schöpft vielmehr aus dem überwältigenden Gefühl, dass alles vergänglich ist, dem Wissen, dass Zeittourismus nur in Gedanken möglich und in Wahrheit alles längst verloren ist. Als wollte ich mich gegen das Memento mori auflehnen, obwohl ich doch weiß, dass es unweigerlich vorwärts geht. Schon als Kind haben mich Veränderungen, die sich nicht wieder rückgängig machen lassen, überfordert. Meistens waren es vollkommen nebensächliche Veränderungen, wie neue Verpackungsdesigns, ein schließendes Geschäft oder ein gefällter Baum in der Nachbarschaft. Einmal saß ich in meinem Zimmer und spielte mit dem Gedanken, mir mit der Bastelschere ein kleines Loch in die Hose zu schneiden. Es war ein sehr verlockender Gedanke, aber gleichzeitig war es beängstigend zu wissen, dass eine kleine Bewegung den Zustand der Hose für immer verändern würde.
Manchmal überkommen mich heute unerwartete nostalgische Momente, die sich auch um solche Nebensächlichkeiten drehen. Dann muss ich plötzlich unbedingt ein Bild von den S-Bahn-Sitzpolstern von vor fünfundzwanzig Jahren sehen, mir alte Markenlogos anschauen oder ein ganz bestimmtes Lied hören, das ich bis zu diesem Moment meinte, vergessen zu haben. Vor ein paar Jahren habe ich auch gerne virtuelle Wanderungen auf Street View unternommen, da die Aufnahmen deutscher Großstädte noch aus dem Jahr 2008 stammten – bis sie 2023 aktualisiert wurden und damit diese Form des Zeittourismus verlorenging.
Ich habe mir immer vorgestellt, wie es wäre, dort auch durch andere Jahrzehnte wandern und die Orte miteinander vergleichen zu können – doch selbst das wäre nichts im Vergleich zu einem tatsächlichen Ausflug in eine andere Zeit. Es fehlen die Sinneseindrücke, die über das Visuelle hinausgehen. Insbesondere Gerüche und der Tastsinn lassen sich weder von Bild- noch von Tonaufnahmen erfassen. Interessanterweise bestehen diese in persönlichen Erinnerungen noch lange fort. Vermutlich kennt so ziemlich jeder das Gefühl, wenn man durch einen ganz bestimmten Geruch in eine andere Zeit versetzt wird.
Da die Zeitmaschine leider – oder zum Glück – immer noch nicht erfunden wurde, scheinen die Zeitreisen im eigenen Kopf da am besten zu funktionieren, zumindest hinsichtlich der Zeit, die man selbst erlebt hat. Nur hier sind alle Sinneseindrücke wahrnehmbar, und das obwohl sie eigentlich der Vergangenheit angehören. In diesem Sinn wäre ich nicht gerne ein Zeittourist – ich bin schon einer. Und gerade nehme ich den Geruch von Fußballstickern wahr, die ich mir an einem Kiosk gekauft habe, an dessen Stelle sich heute eine Wohnung befindet. Es ist ein warmer Junitag, eigentlich habe ich Flötenunterricht, schwänze ihn aber, weil ich nicht genug geübt habe. Später werde ich Ärger bekommen …
Was lässt euch nostalgisch werden? Würdet ihr einen Urlaub in die Vergangenheit antreten, wenn das möglich wäre, oder bleibt ihr lieber bei Erinnerungen?