Gastbeitrag: Die kahle Sängerin – Absurdes Theater

„Verzeihung, Madame, doch es scheint mir, wenn ich mich nicht irre, als wäre ich Ihnen bereits irgendwo begegnet.“ So lautet der erste Satz, der mir heute noch durch den Kopf geht, wenn ich an Eugène Ionescos Die kahle Sängerin (im französischen Original La cantatrice chauve) denke. Und dabei ist es nicht einmal einer der vielen amüsanten Sätze des Stückes, sondern einer, der eher die abstrusen Verhältnisse in dem absurden Theaterstück beschreibt – das Gespräch, das folgt, findet nämlich zwischen einem Ehepaar statt.

Dieser Umstand verblüfft weniger, wenn man sich andere Werke von Eugène Ionesco anschaut. Der rumänisch-französische Dramatiker und Autor wurde in den Nachkriegsjahren für seine absurden Theaterstücke bekannt und gehörte bis zu seinem Tod 1994 zu der Spitze der französischen Bühnenautoren. Die kahle Sängerin, die 1950 in Paris uraufgeführt wurde, war sein erstes Stück und wurde mitsamt den Figuren von den zusammenhangslosen Sätzen eines Englisch-Lehrbuchs inspiriert. Als sogenanntes Anti-Stück parodiert Die kahle Sängerin menschliche Kommunikation und Theater an sich. In einem einzelnen Akt interagieren sechs Figuren ohne Sinn und Verstand: die Ehepaare Smith und Martin, das Dienstmädchen Mary und ein plötzlich auftauchender Feuerwehrhauptmann, die sich allerhand und gleichzeitig nichts zu sagen haben. Die elf Szenen setzen sich dabei aus vielen kleinen Situationen zusammen, die als Schein-Handlung traditionelle Theaterstücke satirisch und humorvoll kommentieren.

Die kahle Sängerin „beginnt“ mit den typisch englischen Gastgebern Mr. und Mrs. Smith, ein älteres Ehepaar, das etwas an sich vorbeizuleben scheint. Während ihr Gatte schnalzend die Zeitung liest, versucht Mrs. Smith mit allerhand wahllosen Themen auf ihn einzureden. Schließlich kommt es doch zu einem abstrusen Gespräch, darunter über den „schönsten Leichnam von Großbritannien“ Bobby Watson, dessen Verwandte offenbar allesamt denselben Namen tragen. Die Verwirrungen enden letztlich in einem Streit und einer schnellen Wiederversöhnung, bevor das Dienstmädchen Mary die verspäteten Gäste Mr. und Mrs. Martin eintreten lässt.

Als diese nach einem sonderbaren Gespräch herausfinden, dass sie nicht zufällig in ein und demselben Bett schlafen, sondern Ehemann und Ehefrau sind, kann das Chaos mit dem Titel Die kahle Sängerin beginnen – von banalen und gleichzeitig faszinierenden Anekdoten über verblüffende Offenbarungen bis hin zu dramatischen Eskalationen zwischen den Figuren. Und am Ende bröckeln nicht nur Beziehungen, sondern die bloße Struktur eines Theaterstücks mit allem Drum und Dran.

Interessanterweise wurden gewisse dänische Fassungen, wie die Übersetzung Den skaldede sangerinde von Klaus Hoffmeyer, freier interpretiert als deutsche. Mit dem Wohnort der Smiths, die dort ein typisch dänisches Paar sind, wurde die Handlung von London nach Kopenhagen verlegt. Mr. und Mrs. Martin stammen aus Ålborg, nicht aus Manchester, wobei Mr. Martin nicht Donald, sondern Peter heißt. Alle Mitglieder von Bobby Watsons Familie wiederum heißen bei Klaus Hoffmeyer René Walther, dessen Leichnam nicht der schönste von Großbritannien, sondern in Skandinavien ist.

In allen Versionen spielt sich Die kahle Sängerin aber mit einem Dialog ab, der so unsinnig scheint, dass man spätestens nach Marys Äußerungen über die wahren Identitäten von Mr. und Mrs. Martin nicht mehr versucht, einen eindeutigen Sinn in Eugène Ionescos Worten zu finden. Irgendwann muss man sich einfach auf das wortwörtliche Schauspiel einlassen und Spaß daran haben, wie vier Charaktere in einen Streit darüber geraten, ob es nun geklingelt hat oder nicht. Es ist, wie das Dienstmädchen zu dem Publikum spricht: „Wer hat ein Interesse daran, dass diese Verwirrung länger andauert? Ich weiß es nicht, versuchen wir nicht, es zu wissen. Lassen wir die Dinge, so wie sie sind.“

In dieser Absurdität liegt wohl einer der großen Stärken von Die kahle Sängerin, die bis heute unzählige Male neuinterpretiert wurde und weiterhin große Beliebtheit genießt. Auch in Dänemark wird das Stück häufig auf die Bühne gebracht, wie etwa am Kopenhagener Teatret ved Sorte Hest oder am Odense Teater. Kein Wunder also, dass Die kahle Sängerin einmal bei der Jugendtheatergruppe landen würde, an der ich selbst teilgenommen habe. Nur wie bringt man ein Anti-Stück auf die Bühne, wie spielt man absurdes Theater? 

Etwas über ein Jahr lang hat unsere Gruppe – eine Regisseurin und Theaterpädagogin, zehn Schauspieler und eine Regie-Assistenz – an und mit Die kahle Sängerin gearbeitet. Lange Zeit hieß es Experimentieren, um absurdem Theater näherzukommen, das ja irgendwie keinen Regeln folgt. Die Fragen fingen nicht bei Rollenbiografien oder ähnlichem an, sondern grundlegendem Schauspiel und Inszenierung. 

Der Entschluss passte schließlich sowohl zu der Absurdität von Die kahle Sängerin als auch dazu, dass in dem Stück Zeit und Raum verrücktspielen: Die Bühne wurde in der Mitte wie durch einen Spiegel geteilt, sodass auf den Seiten zwei „Spiegelbilder“ entstanden, sich die Handlung also auf beiden Seiten abspielte, obwohl der Dialog hin- und herwechselte. So standen auf derselben Bühne zwei Versionen der Ehepaare Smith und Martin. Dialog und Gestik jeweiliger Figuren wurden dabei in gewissen Situationen synchron aufgeführt, sodass sich stellenweise dieselbe Szene zweimal gleichzeitig auf einer Bühne abspielte. Verstärkt werden sollte dieser Effekt durch tatsächliche Spiegel auf den äußeren Seiten der Bühne, durch die praktisch vier Ehepaare zu sehen waren. 

Vielleicht war unsere Inszenierung letztendlich im Sinne von Eugène Ionesco gewesen. Ebenso wie das, was sie sagen, sollen die Figuren des Stücks nämlich austauschbar sein. Und trotzdem lässt sich ein gewisser Charme darin finden, wenn etwa Mr. Smith seine Gattin „Brathühnchen“ nennt oder betrübt festgestellt wird, dass es nirgendswo im Haus brennt. Es geht also nicht zwingend darum, zu erkennen, ob Eugène Ionesco eine gesellschaftliche Dekadenz kritisieren wollte oder nicht. Die kahle Sängerin kann sowohl anspruchsvoll als auch anspruchslos sein – sie ist das, was der Untertitel Anti-Stück verspricht. Ein Anti-Stück ist aber eben dennoch ein Theaterstück, und zwar eins, das unterhaltsam anzuschauen und zu spielen ist. 

Wenn sich also irgendwann einmal die Gelegenheit bietet, sollte man sich nicht entgehen lassen herauszufinden, was dahintersteckt, wenn sich in dem Stück nach der kahlen Sängerin erkundigt wird. 

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Über den Autor: Jona studiert seit fünf Semestern Skandinavistik im Hauptfach und Geschichte im Nebenfach. Er spricht Deutsch und Englisch und lernt seit dem Wintersemester 2018/19 an der Universität Schwedisch. Seit neuestem ist auch Dänisch dazugekommen, das er hier gerne ausbauen möchte. 2019 stand Jona für Die kahle Sängerin auf der Bühne und freut sich auf weitere spannende und herausfordernde Theaterstücke. Bis dahin befasst er sich mit Büchern, Serien und Filmen. 

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