Warum dein Leben keine Regelzeit hat

Zum Ende des Jahres zeigen dir sämtliche soziale Netzwerke deinen „Jahresrückblick“ an. Auch die Plattform Instagram. Neulich musste ich wieder daran denken:
Ein Autor, dem ich folge, teilte seine neun erfolgreichsten Instagram-Posts. Darunter befand sich ein Beitrag, der mir einen Frieden gab, den ich bisher noch nicht kannte.

Jay Kristoff ist ein Autor, den ich sehr schätze und dessen Bücher ich immer wieder verschlinge. Ich dachte, er würde von klein auf schreiben, schon immer geschrieben haben, schon immer gewusst haben, dass er Autor werden würde. Dass dem nicht so war, sprach mir tief ins Herz hinein.

Mein Abitur absolvierte ich auf dem zweiten Bildungsweg. Ich arbeitete im Einzelhandel, wechselte häufig die Branche, bis ich zu studieren begann. Nun bin ich im neunten Semester meines Germanistik-Studiums. „Warum denn Germanistik?“, wurde ich häufig gefragt. „Damit kannst du ja alles und gleichzeitig nichts machen“. Klingt ein wenig holprig – war es auch. Sicherlich auch, weil ich die eine oder andere unkluge Entscheidung getroffen habe.
Alles, was diese Entscheidungen mit meiner beruflichen Laufbahn gemeinsam haben, sind die offenen Fragen, das „Wohin?“, „Was kann ich gut?“, „Was will ich später mal machen?“.
Die Zeit rennt, das Alter schreitet voran und ich weiß immer noch nicht, wohin meine Reise gehen wird oder was ich sonderlich gut kann. Ich habe Ideen und Leidenschaften, die diese Suche bereichern, aber im Gegensatz zu vielen anderen Menschen weiß ich noch nicht, was meine „Berufung“ ist, sollte es so etwas überhaupt geben.

Vor kurzem hatte ich ein Gespräch mit meiner Kollegin, die mit mir in der Buchhandlung arbeitet und gerade im Master Deutsche Literatur studiert. Sie hat zuvor alles in Regelstudienzeit absolviert: Die Schule, das Abitur und den Bachelor und strauchelt jetzt im Master. In ihrer Gegenwart kam ich mir häufig wie eine Verliererin vor. Sie wusste, was sie machen wollte, wohin es gehen sollte, und hatte keine Schwierigkeiten damit. Als sie mir davon berichtete, dass es für sie jetzt auch schwer wird, sich den eigenen Plänen und Erwartungen gerecht zu werden, überraschte das mich. Sie war, genau wie der Autor, jemand, von dem ich nicht gedacht hätte, dass sie sich in einer ähnlichen Situation wie ich befindet.
Ist das etwas Schlimmes? Wenn man seinen Master nicht in vier Semestern wie vorgesehen abschließt? Wenn der Bachelor länger als sechs Semester dauert? Ist sie deswegen weniger wert? Bin ich wegen meiner neun Semester weniger wert? Haben wir kein Durchhaltevermögen oder sind einfach zu sensibel, da wir dem Druck nicht standhalten können? 
Nein.
Wir sind genauso wertvoll wie jeder andere Mensch auch.

Man muss mit 25 noch nicht alles erreicht haben, das erste Haus und Ehepartner*in, zwei Kinder, Hund und Katze mit 30 noch nicht vorhanden sein.  Die Gesellschaft prägt uns häufig so ein Glanzbild ein, das toxisch sein kann.
Diese geformten Muster können für manche Menschen genau das sein, was sie brauchen: Ein Plan, Strukturen, Ziele, an denen sie sich festhalten können. Sie können Glück und Freude bringen.
Für andere können die Erwartungen, die in diesem Muster mitschwingen, erdrückend sein.

Für mich ist es erdrückend, das Idealbild der Gesellschaft zu verfolgen. Studentin im neunten Semester, verheiratet, keine Kinder und kein Haus und dabei bin ich doch schon älter als 25. Was die Leute wohl über mich denken? Denken sie, dass ich eine Enttäuschung bin, weil ich noch nicht im Berufsleben stehe, meine Karriere verfolge und nebenbei Kinder erziehe?
Ich kam häufig an den Punkt der Selbstverdammnis, weil ich zu sehr auf die Stimmen von außerhalb gehört habe. Zu sehr darauf, was die Gesellschaft sagt. Was meine Studienbeschreibung sagt. Ich sah nur mit dickem Kloß im Hals auf meine Studienbescheinigung, die mir praktisch entgegenrief, was für eine Enttäuschung ich doch bin. Da schaffe ich es nicht mal so etwas Einfaches wie meine Muttersprache in Regelzeit zu studieren. Dass es für das Selbstwertgefühl nicht immer gut ist, auf die Stimmen der Gesellschaft oder sozialer Plattformen zu hören, wissen wir alle. Und wir wissen auch alle, wie schwer es ist, das nicht zu tun.
Was mir nun geholfen hat, aus diesen Spiralen der Selbstverdammnis zu kommen, sind Gespräche mit Menschen, denen es ähnlich geht. Menschen, die ihre Geschichte teilen, die bereits diesen Frieden und ihre Wertigkeit in ihrem Sein gefunden haben und nicht in ihren Leistungen.

Du bist mehr wert als deine Leistung. Du bist mehr wert als deine berufliche Laufbahn als die Strukturen und Erwartungen dieser Gesellschaft.
Und es ist in Ordnung, wenn du auch mit 30 oder 40 oder 50 noch nicht weißt, wo dein Weg hingeht und worin du gut bist, wofür dein Herz brennt. Wir leben in einer Gesellschaft mit so vielen Auswahlmöglichkeiten – das kann schon mal erdrückend wirken. Du bist nicht weniger wert, nur weil du viel ausprobierst, weil du versuchst und scheiterst. Du gewinnst immer mehr Erfahrung über dich selbst, kommst dem näher, was du magst und was nicht. Das Wichtigste ist, dass du gut auf dich Acht gibst, die Bremse ziehst, wenn es zu viel wird und dich nicht von Erwartungen und Mustern ersticken lässt.

Du bist mit deiner Unentschlossenheit nicht allein. Mit einem Studium, das vielleicht länger dauert als geplant. Mit dem Traumjob, der Berufung oder dem, was du magst und was nicht.

Beitragsbild: (c) https://unsplash.com/jan_huber

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