Reportage von Christina Becker
Es ist der 20. April 2023, 19.30 Uhr. Das dunkle Lokal ist überraschend gut gefüllt für einen Donnerstagabend. Ein paar Lampen auf den kleinen Tischen zwischen den Stühlen sorgen für eine gemütliche Stimmung im Hessischen Literaturforum. Alle sind hier um einen Einblick in die Welt der Künstler:innen zu bekommen. Wir sprechen nicht vom Malen oder Musizieren, sondern vom Übersetzen. André Wilkening und Alexandra Rak beantworten in einer Diskussion, wieso das Übersetzen von ausländischer Literatur ein Kunstwerk ist. Wilkening präsentiert außerdem Luka Holmegaards Buch Look, das den Zusammenhang zwischen Kleidung und Identität untersucht.
André Wilkenings deutsche Übersetzung von Luka Holmegaards Buch Look kam im Oktober 2022 heraus. Es handelt sich hierbei um einen Essay und gleichzeitig eine autofiktionale Geschichte. Wilkening beschreibt das Buch als leichten Lesestoff. Das Wort „Stoff“ ist metaphorisch zu verstehen, da die Themen Kleidung, aber auch Identität, Liebe, Ästhetik und Ethik sind. Wilkening fasst den Inhalt kurz zusammen: Die Hauptperson und Erzählerin ist Ida, die sich mitten in einer Identitätskrise befindet. Sie findet sich weder in der weiblichen, noch in der männlichen Geschlechterrolle wieder und fragt sich, ob es immer der eine oder andere Weg sein muss oder ob es auch andere Möglichkeiten gibt.
Ida entdeckt, dass Kleidung ein Mittel ist, sich auszudrücken. Sie erinnert sich an ihre Großeltern und an ihre Mutter und erkennt, dass Kleidung schon immer ein großer Fokus in ihrer Familie war. Die Farben der Stoffe, die Schnitte und die Art, wie die Materialien vernäht sind, geben einen individuellen look und spiegeln den Charakter derjenigen, die es tragen, wider. Aber wo soll man seine Kleidung kaufen, wenn man sich in der Damen- oder Herrenabteilung nicht wiederfindet? Die Leser:innen werden auf eine Selbstfindungsreise mitgenommen.
Das nächste Problem, dass die Moderatorin Rak anspricht, ist die sehr verbale Sprache im Buch. Wilkening versteht Holmegaards Sprache selbst wie eine Figur, die durch viele Facetten gekleidet wird, denn Luka Holmegaard spielt mit Mehrdeutigkeiten und Metaphern. Die Figur Ida ist nachdenklich und lebt in ihrer eigenen Welt und hat springende und fließende Gedanken.
Wilkening weist daraufhin, dass die Übersetzung des Buches mit einigen Herausforderungen verbunden war. Zum einen enthält Look viele englische Zitate, die für das deutsche Lesepublikum übersetzt werden mussten, da Englisch keine so große Rolle im Alltag in Deutschland spielt, wie in Dänemark. Einige Zitate und Anglizismen blieben jedoch auf Wunsch Holmegaards im Original stehen. Zum anderen hat Idas Geschichte mehrere Nähausdrücke, die Wilkening erst in einem Modelexikon nachschlagen musste. Der zeitaufwändigste Teil der Übersetzung war jedoch die Recherche, verrät er. Zitate, Ortsnamen u.s.w. müssen stets gründlich recherchiert werden, um Fehler zu vermeiden. Außerdem entsteht oft die Frage, was man mit Wörtern tut, die man nicht übersetzen kann, die aber wesentlich für das Verständnis der Handlung sind. Versucht man sie zu umschreiben oder lässt man sie stehen? Verglichen mit der deutschen Schreibettiquette haben die Dänen keine Angst vor Wiederholungen und man sieht dies nicht als schlechten Schreibstil an. Verschiedene Formulierungen sind auf Deutsch komprimierter als auf Dänisch. Dadurch wurden manche Textstellen in der Übersetzung kürzer. Normalerweise ist eine deutsche Übersetzung durchschnittlich 25% länger als das dänische Original, aber das ist hier nicht der Fall.
Jede Übersetzung ist ein Kunstwerk. Da sind sich Wilkening und Rak – die beide als Übersetzer:innen tätig sind – einig. Es ist ein Spiel mit Wörtern, Sätzen und Sprache. Beim Übersetzen fühlt man sich in die Lage der Figuren ein und nimmt deren Identität ein Stück weit an. Das zeugt von einer großen Portion Kreativität und Empathie. Das Resultat ist ein Werk, dass die gleiche Geschichte erzählt wie das Original, aber auf eine ganz andere Weise. Mit diesen inspirierenden und bereichernden Einsichten verlassen die heutigen Gäste das warme Lokal und gehen hinaus in den kühlen und regnerischen Frühlingsabend.