Warum ich mir immer die falschen Zitate merke

Ich finde es unfassbar beeindruckend, wenn Menschen Zitate auswendig können. 

Mag es der Professor in der Vorlesung sein, der scheinbar, ohne nachzudenken, Kant, Russel oder Hegel zitieren kann. Oder die Studentin in der ersten Reihe, die ebenfalls jedes wichtige Werk der Philosophiegeschichte gelesen zu haben scheint. Spätestens wenn das nächste love interest (der potentiell romantische Partner) in einem meiner Fantasy-Romane wieder fehlerlos flüssig sein Wissen über Weltliteratur zum Besten gibt, bemerke ich mal wieder, dass belesen zu sein und Textpassagen auswendig zu können, offensichtlich eine erstrebenswerte Eigenschaft ist.

Dementsprechend selbst bemühe ich mich darum, stets ein paar interessante Zeilen abrufbar in meinem Kopf zu haben. Dieser Wunsch, Zitate auswendig zu können, begann so richtig nach meinem Abitur, nach dem ich zumindest kurzfristig etwas mehr Zeit hatte, die Bücher, Kurzgeschichten und Gedichte, die wir im Deutsch-Unterricht gelesen hatten, zu reflektieren. In diesem Zuge entdeckte ich auch meine Liebe für expressionistische Gedichte und kam zugleich auf den Gedanken, wie eindrucksvoll es wäre, wenn ich die Gedichte nicht nur kennen, sondern auch auswendig könnte. 

In den nächsten Monaten lernte ich folglich so ziemlich jedes Gedicht und Zitat auswendig, das mir irgendwann einmal in meinem Leben begegnet ist – zum Beispiel Punkt von Alfred Lichtenstein, Der Krieg von Georg Heym oder Städter von Alfred Wolfenstein. Ich gab mir wirklich Mühe, mir die von mir selbst als wertvoll herausgewiesenen Sätze zu merken. Wie man sich denken kann – ohne Erfolg. Das meiste habe ich innerhalb kürzester Zeit wieder vergessen und konnte auch nie so souverän darauf zurückgreifen wie die Menschen, die ich bewunderte. 

Welche Moral kann man folglich aus dieser Erfahrung ziehen? Dass es nur sehr wenige Menschen gibt, die Zitate auswendig können, diese sie wahrscheinlich seit sehr langer Zeit eingeübt oder die sie sich vorher aufgeschrieben haben? Dass love interests in Büchern fiktional sind und man sich mit ihnen nicht vergleichen sollte? Wahrscheinlich schon, aber je mehr Bücher und Gedichte ich gelesen habe, desto mehr habe ich registriert, dass ich mir durchaus Zitate und Abschnitte merke – nur eben nicht die, die ich mir vorher als erstrebenswert herausgepickt habe. 

So weiß ich beispielsweise immer noch, dass ich in Aus dem Leben eines Taugenichts von Joseph von Eichendorff Folgendes gelesen habe:

„Auf einmal klopfte mir jemand von hinten auf die Achsel.“

– Aus dem Leben eines Taugenichts von Joseph von Eichendorff

Wahrscheinlich liegt es an mir, dass ich unter Achsel eher Achselhöhle als Schulter verstehe, aber als ich das erste Mal diesen Satz gelesen habe, … habe ich mir das Szenario unfassbar lustig vorgestellt. Kann ich mich dafür an die Handlung erinnern? Wohl eher weniger, aber dieses dumme, komplett sinnlose Zitat wird wahrscheinlich für immer in meinem Kopf bleiben. 

Ich kann mich jedoch auch an Stellen aus Büchern erinnern, über die andere wahrscheinlich nichtsahnend drüber gelesen haben, die aber für mich, je länger ich über sie nachgedacht habe, eine sehr tiefe Bedeutung entwickelt haben. Ein Beispiel hierfür wären die Kurzgeschichten von H. P. Lovecraft. Ich bin wahrlich keine Lovecraft-Expertin, deswegen kann ich mich nur auf diese Kurzgeschichten beziehen, aber in wirklich (fast) allen von ihnen kam in irgendeiner Form der Satz vor „Das Monster war zu abstrus/grotesk/bizarr, um es mit Worten zu beschreiben“. Es gibt sogar eine Geschichte namens „Das Unbeschreibliche“, in denen die letzten Worte lauten:

„Da waren Augen – und eine Missbildung. Es war eine Grube – ein Mahlstrom – der letzte Gräuel. Carter, es war unbeschreiblich!“

– Das Unbeschreibliche von H. P. Lovecraft

Habe ich mich am Anfang etwas darüber aufgeregt, dass sich der Autor einer Horror-Geschichte anscheinend mit diesem ausweichenden Satz jedes Mal aus der konkreten Beschreibung des Ungetüms herauswinden möchte? Ja, schon ein wenig! Doch je häufiger ich über diese Formulierung nachgedacht habe, desto mehr habe ich über die Ängste von Menschen im Generellen reflektiert und mir angefangen die Frage zu stellen, ob Worte und Geschichten wirklich jedes Mal reichen, um diese akkurat zu beschreiben und anderen verständlich zu machen.

Anstelle von angeblich eloquenten Zitaten notiere ich mir heute folglich lustige Stellen in Büchern, unlogische, verwirrende, doppeldeutige oder schlichtweg Stellen, in denen nur ich persönlich einen Mehrwert sehe. Es mögen vielleicht nicht die Zitate sein, mit denen man eine Diskussion gewinnt oder welche man im Unterricht aufsagt, aber es sind die für mich wichtigen Zitate. 

Und womöglich war das von Anfang an mein Denkfehler: Menschen merken sich das, was bedeutsam für sie ist. Was sie berührt, beeinflusst, verändert. Man kann sich nicht einfach willkürlich Satzfetzen zusammensuchen und sie mechanisch auswendig lernen – ich meine, kann man schon, aber dementsprechend mühsam und (zumindest in meinem Fall) fruchtlos ist das ganze Unterfangen dann vielleicht auch. Man sollte bei so einem Projekt, nicht nur das Ziel verfolgen, möglichst intelligent zu wirken – so wie ich es getan habe.

Dabei möchte ich keinesfalls in Frage stellen, dass die Zitate und Gedichte, die ich vorher versucht habe, auswendig zu lernen, tatsächlich für viele Menschen bedeutsam sind und zum Teil die Weltliteratur geprägt haben. Es lässt sich sicher sehr lange darüber diskutieren, was am Ende gutewertvolle Literatur ist oder ob es so etwas überhaupt gibt – eine Diskussion, die ich mir nicht anmaßen möchte zu führen. 

Aber ich denke eine ganz andere, wie ich finde aber ebenfalls berechtigte Überlegung ist: Was ist gute Literatur für mich? Was bringt mich weiter? Was bedeuten mir die gelesenen Textstellen? Und ist es nicht auch manchmal vollkommen in Ordnung, wenn zwar scheinbar ein Buch für die gesamte Menschheit wichtig und lesenswert ist, aber eben nicht für mich? Wird es dadurch gleich weniger wert?

Ich würde sagen nein. Zwar möchte ich auch in Zukunft neugierig bleiben und immer wieder verschiedene Werke lesen, um meinen Horizont zu erweitern, aber ich versuche auch immer mehr zu akzeptieren und wertzuschätzen, wenn ein Buch – trotz der angeblichen Wichtigkeit des diesen – mir persönlich nichts sagt und dementsprechend vielleicht für viele andere Menschen gute Literatur ist, aber eben nicht für mich. Ich kann nicht entscheiden, welches Buch – oder mag es kein Buch sein, sondern ein Film, ein Computerspiel, etc. – mich berührt, beeinflusst, verändert. Und dementsprechend kann ich für mich auch nicht entscheiden, welche Zitate ich mir merke und welche nicht. Ich finde es schade, wenn man die Dinge, die man mag, runterredet oder sich für sie schämt, nur weil sie vielleicht nicht von der allgemeinen Gruppe als wertvoll wahrgenommen werden. Was helfen mir schon angeblich wichtige Kunstwerke, wenn sie nicht wichtig für mich sind?

So mögen die Zitate, die ich mir gemerkt habe, für andere keinerlei Bedeutung haben, aber für mich waren es vielleicht genau die kleinen Satzfetzen, die in dem Moment, in dem ich sie gelesen habe, in meiner Lebenssituation, mit meinem Charakter, mit meinem Vorwissen genau das waren, was ich mir hatte merken sollen.

Folglich … vielleicht merke ich mir doch nicht immer die falschen Zitate, vielleicht merke ich mir genau die richtigen.

Was sind deine Lieblingszitate? Welche möglicherweise unüblichen Zitate haben dich beeinflusst?

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Über die Autorin: Zoe-Rufina hat 2023 ihren Bachelor im Hauptfach Philosophie und Nebenfach Germanistik abgeschlossen und studiert nun im Master Philosophie. Sie arbeitet als Peer-Tutorin beim Schreibzentrum und ist ebenfalls ehrenamtlich bei der Literaturzeitschrift Johnny tätig. Sie interessiert sich für Literatur aller Art und schreibt leidenschaftlich gerne in ihrer Freizeit Geschichten. 

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