Der Auftritt von Lars und Sigrit im isländischen Eurovision-Vorentscheid Söngvakeppnin läuft nicht gut. Einiges geht schief, und letzten Endes muss das Duo den Sieg an eine Konkurrentin abgeben. Lars‘ großer Traum, sein Land beim Eurovision Song Contest zu vertreten, ist geplatzt, was ihn so traurig macht, dass er und Sigrit nicht einmal die auf einem Boot steigende Aftershow-Party besuchen. Doch dann kommt alles anders: Eine Explosion auf dem Boot tötet alle Partygäste und lässt dem Organisationskomitee keine Wahl: Lars und Sigrit müssen als einzige Überlebende doch zum ESC nach Edinburgh fahren. Vor Ort überschlagen sich die Ereignisse ebenfalls: Persönliche Konflikte, ein Mordanschlag, Korruption, ein Songwechsel in letzter Sekunde und eine Disqualifizierung sind nur ein Teil des Chaos, doch schließlich endet der Eurovision Song Contest 2020 emotional und friedlich.
Was wie die überzeichnete Handlung eines Comedyfilms klingt, ist es auch. Der fiktionale Spielfilm „Eurovision Song Contest: The Story of Fire Saga“, geschrieben von Will Ferrell und Harper Steele, erschien unter der Regie von David Dobkin im Juni 2020 auf Netflix und war für so manchen Fan vielleicht eine kleine, humoristische Entschädigung für den eigentlichen ESC, der in diesem Jahr aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt wurde. Comedyfilme haben es an sich, keinen Anspruch auf Realismus zu erheben und bewusst zu übertreiben, allerdings muss ich als langjähriger ESC-Fan eingestehen: Ganz so unrealistisch sind die Ereignisse im Film dann auch wieder nicht. Oft wirkt die Realität selbst unrealistisch.
Zwar ist im Zusammenhang mit dem Eurovision Song Contest 2024 niemand ums Leben gekommen, turbulent war die 68. Ausgabe des europäischen Songwettbewerbs dennoch in vielerlei Hinsicht und endete in Fankreisen auch mit den Fragen: Wie geht es weiter? Was muss sich verändern?
Kontroverse Hintergründe
Kontroversen und Kuriositäten gibt es beim ESC jedes Jahr, nicht nur während der Woche, in der die Liveshows ausgetragen werden, sondern im Grunde über das ganze Jahr verteilt. Dieses Mal drehte sich vieles um die kontroverse Teilnahme Israels, aufgrund der mehrere Repräsentanten in Erwägung zogen, ihre eigene Teilnahme zurückzuziehen. Kontrovers waren hier nicht nur die Teilnahme an sich, sondern auch die Umstände der internen Songauswahl. Im Februar wurde bekannt, dass der israelische Sender Kan einen Beitrag mit dem Titel „October Rain“ bei der European Broadcasting Union (EBU) eingereicht hatte – eine unmissverständliche Anspielung auf den Hamas-Angriff im Oktober 2023, die sich auch im Rest des Textes widerspiegelte. Der Text wurde von der EBU als zu politisch eingestuft und musste mehrfach geändert werden, um regelkonform zu sein, was Kan zunächst ablehnte, schließlich aber doch tat. Vergleicht man den Text der umgearbeiteten Version, „Hurricane“, mit der ursprünglichen, sieht man, dass nicht besonders viele Änderungen vorgenommen wurden. In erster Linie wurde die Zeile „I’m still wet from this October rain“ zu „I’m still broken from this hurricane“ geändert.
Der offizielle Beitrag ließ genug Interpretationsspielraum zu, um den Regeln gerecht zu werden, war angesichts der Vorgeschichte und den immer noch vorhandenen Anspielungen aber trotzdem umstritten. Während der gesamten Saison gab es Aufrufe gegen die Teilnahme Israels, einerseits von Fans, andererseits von ehemaligen und diesjährigen Teilnehmern, während andere Beteiligte sich wiederum für die Teilnahme Israels aussprachen – besonders die EBU selbst, die in einem Interview mit der belgischen Tageszeitung Het Laatste Nieuws äußerte: „[T]he Israeli public broadcaster complies with all the competition rules […] The Eurovision Song Contest remains a non-political event, uniting audiences worldwide through music.“ (Quelle: https://eurovoix.com/2023/12/09/ebu-releases-statement-on-israels-participation-in-eurovision/)
Ähnliche Fälle gab es in der jüngsten ESC-Geschichte zweimal: Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 wollte die EBU Russland zunächst nicht vom Wettbewerb ausschließen und änderte ihre Meinung erst unter öffentlichem Druck. Mehrere Nationen sprachen sich gegen die Teilnahme aus und drohten ihren eigenen Rücktritt an, sollte Russland zugelassen werden. Im Unterschied zu diesem Jahr fiel die Entscheidung, Russland auszuschließen, innerhalb von zwei Tagen und zog sich nicht über mehrere Monate hinweg. Einen Song gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Etwas anders sah es ein Jahr zuvor mit Belarus aus. Der eingereichte Song mit dem Titel „Ya nauchu tebya (I’ll Teach You)“, der unter anderem eine Zeile enthält, in der man beigebracht bekommt, „how to walk along the line“, um glücklich zu werden, wurde wie „October Rain“ inspiziert und als nicht regelkonform eingestuft – in diesem Fall sah man den Songtext unter Fans als propagandistisch und befürwortend für politische Unterdrückung an, wobei sich die EBU so explizit nicht äußerte. Später reichte Belarus einen anderen Song ein, der aus den gleichen Gründen abgelehnt wurde. Seit diesen Ausschlüssen sind Russland und Belarus noch immer von einer Teilnahme suspendiert. Vor diesem Hintergrund sahen viele ESC-Fans es als widersprüchlich an, dass die EBU sich bezüglich Israel anders entschied. Ob der aktuelle israelische Hauptsponsor des Wettbewerbs bei dieser Entscheidung eine Rolle spielte, Kan besser vernetzt war als die russischen und belarussischen Sender oder ob die Gesamtsituation schlicht komplexer und von mehr Graustufen gezeichnet war, ist zumindest aus einer neutralen Perspektive nicht eindeutig zu sagen. Nicht abzustreiten ist hingegen, dass diese Kontroverse einen massiven Einfluss auf die Stimmung beim diesjährigen ESC nahm.
Alles nur Politik?
Bevor ich begonnen habe, diesen Blogbeitrag zu schreiben, habe ich lange überlegt, wie ich die Sache angehe. Es wäre so viel einfacher, die Kontroversen auszulassen oder sich auf eine weniger politische Kontroverse – die Disqualifikation der Niederlande am Tag des Finales – zu konzentrieren. Man könnte sich entscheiden, ausschließlich über die Musik zu sprechen oder lustige Anekdoten aus der National Final Season erzählen, die es ebenso Jahr für Jahr gibt, genau wie zahlreiche kleinere, unspektakulärere Kontroversen. Hierunter fielen diesmal beispielsweise der Absturz der Voting-App beim ukrainischen Vorentscheid Vidbir, wegen der das Ergebnis um einen Tag verschoben werden musste, und die Regeländerung der EBU, dass die Zuschauer dieses Jahr nicht erst am Ende der Sendung, sondern schon von Beginn an für ihre Favoriten abstimmen konnten.
Es ist immer einfacher, Themen auszulassen, die einem einfach zu heikel sind. Denen man sich nicht gewachsen fühlt oder bei denen man befürchtet, etwas Falsches sagen zu können. Bezeichnend für diese Tendenz war der Moment im Aftershow-Programm der ARD, in dem die Gesamtergebnisse noch einmal heruntergebrochen und diskutiert wurden. Als eine Grafik mit den deutschen Publikumsstimmen eingeblendet wurde und Israel dort auf dem 1. Platz stand (im gesamten Wettbewerb hatten sie den 5. Platz belegt, beim internationalen Publikumsvoting den 2. Platz), herrschte kurze Stille, dann ging Moderatorin Barbara Schöneberger zum nächsten, unkomplizierteren Punkt über, ohne näher auf dieses Ergebnis einzugehen. Als öffentlich-rechtlicher Sender versuchte man hier wohl, neutral zu bleiben – bloß war die einzige Möglichkeit zur ‚Neutralität‘ an dieser Stelle das Schweigen.
Auch die EBU selbst nennt den ESC immer noch unpolitisch, obwohl er das inoffiziell noch nie war. Ein Wettbewerb, in dem Nationen repräsentiert werden, in dem es immer wieder Szenarien gibt, in denen manche Länder aufgrund anderer Länder nicht teilnehmen möchten, in dem insbesondere das Austragungsland die Möglichkeit hat, sich selbst darzustellen und zu vermarkten, und in dem letztendlich füreinander abgestimmt wird, hat eine unvermeidliche politische Komponente.
Auch gibt es weit mehr als nur einen ESC-Song mit politischen Inhalten, der nicht disqualifiziert wurde. Erst letztes Jahr stand die kroatische Punkrockband Let 3 für ihr Land auf der Bühne und übte mit karikativen Kostümen und einem von politischen Metaphern geprägten Text Kritik an Diktaturen. Es gibt also zweifelsohne Spielraum, dessen Ausmaß von außen jedoch nicht durchschaubar ist. Gerade die Intransparenz diesbezüglich und die Geschlossenheit der EBU wird aktuell von Fans und Fanmedien in Frage gestellt.
All diese Gedanken sollen keineswegs in die Richtung von verdrossenen Statements wie „Beim ESC spielt die Musik doch gar keine Rolle“ und „ist doch alles nur Politik“ gehen – wie man sie schon viel zu oft gehört hat und die tendenziell auch von Personen kommen, die die Liveshows nicht einmal verfolgen, geschweige denn die Nebenschauplätze. Die Songs sind für mich als Fan immer die Hauptsache. Von Januar bis Mai verfolge ich diverse nationale Vorentscheide, fiebere mit, erstelle mein persönliches Songranking und diskutiere mit anderen Menschen im Internet über alles, was mit dem ESC zu tun hat, vor allem in musikalischer Hinsicht. Es ist eine klassische „Bubble“, wie es sie zu allen möglichen Themen gibt, eine Ansammlung von Leuten, für die dieser Wettbewerb deutlich mehr Platz im Kopf einnimmt als nur ein paar Stunden Fernsehen eines Samstagabends im Mai. Ich würde immer noch sagen, dass die Musik in diesen Kreisen an erster Stelle steht. „Music first, always“, wie Duncan Laurence, der niederländische Gewinner aus dem Jahr 2019 nach seinem Sieg sagte. Auf der anderen Seite ist das aber auch nicht alles.
„Es ist kompliziert“
Ja, die Musik steht an erster Stelle, doch zugleich wäre es gelogen, zu sagen, dass die politische Situation dieses Jahr keine Rolle für meine persönliche Wahrnehmung des ESCs gespielt hat. Es schien, als könnte sich die Vorfreude nicht so entfalten wie sonst, weil eine Anspannung über allem lag, die spürbarer war als je zuvor – dabei war ich nicht einmal vor Ort in Malmö, wo die Anspannung noch deutlicher war. Die Disqualifizierung der Niederlande verstärkte diese noch weiter. Bis wenige Minuten vor Beginn des Finales war ich immer noch nicht ganz sicher, ob die Show nicht doch noch im letzten Moment abgeblasen werden oder ob Delegationen ihre Teilnahme zurückziehen würden. Auch Sicherheitsbedenken waren ehrlicherweise vorhanden. Schließlich verlief die Show weitgehend glatt – zumindest für das Fernsehpublikum, da in der Übertragung auch sogenannte „anti-booing technology“ und Fake-Applaus zum Einsatz kamen. Es gewann die Schweiz, mit einem Lied, das schon seit seiner Veröffentlichung zum engeren Favoritenkreis gezählt hatte, dicht gefolgt von Kroatien, ebenfalls einem der Favoriten. Deutschland bekam zum ersten Mal seit sechs Jahren über hundert Punkte und Dänemark schied – wieder einmal – im Halbfinale aus.
Waren am Ende also doch alle „United by Music“, wie es der offizielle Slogan des Wettbewerbs verspricht? Wenn, dann wohl nur mit Einschränkungen. Im Großen und Ganzen wirkte der diesjährige ESC gespaltener, als er es selbst gerne wäre. Auch in der besagten „Bubble“ herrschte nach dem Finale dieses Jahr weniger die Traurigkeit darüber, dass es vorbei war, sondern eher eine Form von Erleichterung. Einen einfachen Weg, wie man diese bedingungslose Eintracht durch Musik erreichen kann, gibt es nicht. Vielleicht gibt es ihn auch überhaupt nicht. Ein offenerer Umgang der EBU mit ihren Entscheidungskriterien, Regeländerungen und Investigationen könnte ein Schritt in die richtige Richtung sein – viel wichtiger wäre es aber wohl, sich die politischen Aspekte des Wettbewerbs auch öffentlich einzugestehen, anstatt so zu tun, als gäbe es sie nicht. Werbeslogans voller Positivität verlieren an Glaubwürdigkeit, wenn Kontroversen kaum kommentiert werden.
Habt ihr den ESC dieses Jahr verfolgt? Waren die politischen Nebenschauplätze für euch präsent oder haben sie keine große Rolle gespielt? Was steht für euch beim ESC im Vordergrund?