Tove Ditlevsen – „Kindheit“

Dunkel ist die Kindheit, und sie winselt wie ein kleines Tier, das man in einen Keller eingesperrt und vergessen hat.“

„Kindheit“ von Tove Ditlevsen (1917 – 1976) ist ein autobiografischer Roman und beschreibt ihr Leben bis zu ihrem 14. Lebensjahr. Sie wächst in einer Arbeitergesellschaft im verarmten Teil Kopenhagens auf und fühlt sich oft fehl am Platz, weil sie davon träumt, Dichterin zu werden, was in diesem Milieu unvorstellbar ist. Durch die humorvolle und verständnisvolle Perspektive der Erzählerin wird die eigentlich schwere Thematik des Romans gelockert und das macht ihn zu einem einzigartigen Leseerlebnis.



Tove Ditlevsens Bekanntheitsgrad ist in Deutschland erst mit der Veröffentlichung ihrer Autobiografien gewachsen. Im Gegensatz zu Dänemark sind ihre Werke weniger bekannt. Sie gilt als eine der bekanntesten skandinavischen Schriftstellerinnen.

Die Zeit verging und die Kindheit wurde dünn und platt wie Papier, sie war müde und fadenscheinig, und an schlechten Tagen sah es nicht so aus, als würde sie halten bis ich erwachsen war.“


Für gewöhnlich lese ich ungerne Memoires oder Autobiografien, da mir diese häufig zu intim wirken. Es berührt mich immer wieder, wie sehr Tove Ditlevsen in all diesen grausamen Situationen ihren Bezug zu Poesie und dem Schreiben findet. Bereits am Anfang des Romans, der den Auftakt einer dreiteiligen Autobiografie bildet, erfährt der Leser, dass die Welt des kleinen Mädchens grau und einsam gewesen wäre, hätte ihr Vater ihr nicht eine Ausgabe von Grimms Märchen geschenkt. Das Leben im Elternhaus ist für Tove nicht einfach. Ihre Eltern unterdrücken sich gegenseitig, nehmen sich die Freiheit, Lebenslust und die Träume, die sie dem anderen eigentlich geben sollten. Ihr politisch aktiver Vater unterstützt die Sozialdemokraten und die Mutter leidet oft an Wutausbrüchen, die Tove häufig miterleben muss, weshalb die Beziehung zu ihr recht kompliziert ist.


Das Besondere an dem Roman ist die Art, wie er geschrieben ist. Er liest sich einfach und leicht. Auch wenn viele schwere Situationen in Toves Kindheit geschildert werden, geht die Hoffnung in dem Roman nicht ganz verloren: Tove träumt vom Schreiben, fühlt sich dem nah, muss aber zuerst durch die Schule und lernt dabei Freundschaft und Liebe kennen. Die Geschichte wärmt meine  Seele genauso wie sie mich erschüttert. Die Gedichte, die Tove heimlich in ihr Poesiealbum schreibt und vor ihrer Familie versteckt, sind wie eine Art Therapie, die ihr helfen alles loszuwerden, was sie beschäftigt. Doch sie klagt nicht an, sie verurteilt nicht, sondern erzählt selbst von schlimmeren Umständen ihrer Kindheit mit einem Augenzwinkern, immer versuchend das Beste aus den Situationen zu machen.

Am Morgen war die Hoffnung da. Sie saß als flüchtiger Schimmer im glatten schwarzen Haar meiner Mutter, das ich nie zu berühren wagte, und sie lag mir auf der Zunge, wie der Zucker im lauwarmen Haferbrei, den ich langsam verspeiste, während ich ihre schmalen, gefalteten Hände betrachtete, die reglos auf den Zeitungsberichten über die Spanische Grippe und dem Versailler Vertrag ruhten.“

Trotz meiner Vorbehalte gegenüber Autobiografien, muss ich zugeben, dass mir dieser Roman sehr gefallen und gleichzeitig missfallen hat. Vielleicht liegt es an meiner sensiblen Art und daran, dass ich es in Fiktion schon schlimm finde, wenn über Misshandlung und Missstände geschrieben wird, aber in einer Biografie, die das tatsächliche Leben eines Menschen spiegelt, berührt mich das umso mehr. Ich bin eine Gefühlsleserin und nehme Bücher mit meinem ganzen Sein auf, so dass es mir an manchen Stellen sehr schwerfiel, nicht einfach abzubrechen, weil es mir zu viel wurde, auch wenn ich wusste, dass Tove mit ihrer Art trotz allem neues Licht in das Leben bringen würde.
Es ist diese Form der Hassliebe, die einen trotz vieler Umstände an sich fesselt, und die ich für den Roman empfinde.

Einfach ein grandioses Buch.

Beitragsbild: (c) www.wdr.de

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