Über die Berechnung des Rauminhalts I  

Im September 2023 wurde Über die Berechnung des Rauminhalts II von Solvej Balle in der Übersetzung aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle im Verlag Matthes & Seitz Berlin herausgegeben. Dies ist der zweite Teil eines sieben-bändigen Romanprojekts. Das erste Buch wurde ebenfalls von Urban-Halle übersetzt und erschien im Frühjahr 2023, auch bei Matthes & Seitz. Im Dänischen sind bisher vier Bände erschienen. Für die ersten drei Bände erhielt Solvej Balle 2022 den Literaturpreis Nordischen Rates. Für dieses Romanprojekt lässt sich die Autorin sehr viel Zeit. Die Idee zu dem Titel hatte sie bereits im Jahr 1986, erzählt Solvej Balle in einem Interview mit Peter Urban-Halle im Literaturhaus Berlin.

In Dänemark ist sie eine bekannte Autorin. 1984 veröffentlichte sie ihren ersten Roman Lyrefugl. Mit ihrem Erzählband Nach dem Gesetz: vier Berichte über den Menschen (dänisch: I følge loven: fire beretninger om mennesket) aus dem Jahr 1993, erhielt sie internationale Aufmerksamkeit. Über die Berechnung des Rauminhalts ist ihr großes Comeback.  

Solvej Balle wurde 1962 in Bovrup in Südjütland geboren, sie studierte Literatur und Philosophie in Kopenhagen. Sie reiste durch Frankreich, wo die Handlung im ersten Band stattfindet. Sie reiste auch durch Australien, USA und Kanada. In dem zweiten Band von Über die Berechnung des Rauminhalts wird Reisen zu einem wichtigen Thema. Ich möchte hier aber zunächst das erste Buch etwas näher vorstellen. Es ist ein Roman, den ich sehr empfehlen kann.

Die Protagonistin Tara Selter erlebt den achtzehnten November immer wieder. Sie ist in einer Zeitschleife und hat Erinnerungen an den vorangegangenen achtzehnten November. Am Tag #121 beginnt sie, ein Tagebuch zu führen. Der Leser liest dieses Tagebuch. Taras Mitmenschen erleben diese Wiederholung nicht. Für sie ist jeder Tag wie der erste achtzehnte November.

Tara und ihr Mann Thomas handeln mit antiquarischen Büchern. Tara fährt auf eine Geschäftsreise nach Bordeaux und besucht Philip, einen Freund und lernt dabei auch seine Freundin Marie kennen. Versehentlich verbrennt Tara sich die Hand an einem Ofen. Als sie am nächsten Morgen aufwacht, ist es wieder der achtzehnte November, aber sie erinnert sich an den letzten Tag und hat eine Narbe auf der Hand von der Verletzung. Für Tara wiederholt sich nun der achtzehnte November immer wieder, sie wird älter. Tara fährt zurück zu ihrem Mann nach Clairon-sous-bois. Für Thomas ist jeder Tag wie der erste achtzehnte November, er hat keine Erinnerungen an den vorangegangenen achtzehnten November. Tara erzählt ihm, dass sich der Tag für sie wiederholt und er glaubt ihr. Auch das wiederholt sich. Er glaubt ihr jedes Mal, doch die zeitliche Distanz wird immer größer. Dann wird auch die räumliche Distanz immer größer:  Zuerst schläft sie im selben Bett wie Thomas, dann schläft sie in einem Gästebett im Hinterzimmer ihres Hauses und später zieht sie in ein leerstehendes Haus in Clairon.  Nach einem Jahr besucht sie Philip und Marie wieder. Sie zeigen Tara eine Wohnung, in die Philip und Marie gerne einziehen würden. Tara erzählt ihnen, dass sich der achtzehnte November wiederholt, aber sie glauben ihr nicht. Ein Jahr ist vergangen, etwas hat sich verändert. Das Ende ist offen, deutet aber darauf hin, dass es immer noch der achtzehnte November ist. 

Die Handlung des Romans wird auf vielfältige und teils sehr unterschiedliche Weise interpretiert: Es geht um eine Liebesbeziehung, um soziales Leben, um Entfremdung und darum, sich selbst zu finden. Es lässt sich das aktuelle politische Thema der Nachhaltigkeit im Text wahrnehmen, weil die Lebensmittel, die Tara verbraucht, am nächsten Tag in der nächsten Wiederholung nicht mehr da sind.

 Man kann sich die Frage stellen, ob die Beziehung von Tara und Thomas mit einer Beziehung zu einer an Demenz erkrankten Person vergleichbar ist, allerdings kann sich im ersten Buch nur Tara an den bereits vorher erlebten Tag erinnern. Es könnte sich bei Taras Empfinden auch um eine Wahrnehmungsstörung handeln, weil sie in ihrer eigenen Zeit gefangen ist. Sie altert, alle anderen nicht, – eine Midlife-Crisis? Trotz all der sehr verschiedenen Möglichkeiten, das Buch für sich zu entschlüsseln, ist es doch sehr realistisch geschrieben. Die Rahmenbedingungen des Romans sind jedoch unvorstellbar: Ein Tag, der sich für Tara wiederholt, für andere nicht. Was also ist Zeit? Was ist Wahrnehmung? Manche Dinge kehren dahin zurück, wo sie am Ausgangstag waren, andere nicht. Was genau ist Materie und was macht persönliche Gegenstände aus? Die Fragen bleiben unbeantwortet. Darauf, ob an einem sich wiederholenden Tag überhaupt noch etwas Spannenden passieren kann, liefert Balle doch eine Antwort: sehr viel! Darauf, ob an einem sich wiederholenden Tag überhaupt etwas Neues und Spannendes passieren kann, liefert Balle doch eine Antwort: Ja, sehr viel sogar! Durch viele im Buch beschriebenen Details, angefangen bei der Beschreibung des Morgenlichts und den Vogelstimmen, den Gedanken während des Tages und den Möglichkeiten, etwas anders zu machen, bekommt der Leser vermittelt, wie viel Potenzial in einem einzigen Tag steckt.  

Solvej Balle schafft es, die Gemütlichkeit vom Alltag in dem gemeinsamen Haus von Tara und Thomas zu verändern, ohne dass sich im Äußerlichen daran was ändert, denn die Veränderung findet in der Protagonistin statt. Die Liebesbeziehung, die nahezu perfekt erscheint, scheitert an den Wiederholungen des Tages und der sich entwickelnden Entfernung der beiden voneinander, weil Tara sich verändert und bei Thomas alles unverändert bleibt. Das Buch regt auf jeden Fall zum Nachdenken an und es ist ja genau das, was gute Romane ausmacht.

Die Bände eins bis vier erschienen in Dänemark beim Pelgraf Verlag. Das ist Solvej Balles eigener Verlag.

Schreibe einen Kommentar