TW: In diesem Beitrag geht es um Femizide, Gewalt gegen Frauen, sexuelle Gewalt und Vergewaltigung.
We need to talk about femicide.
Ich war 15, als ich erfuhr, dass es einen Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen gibt. Am Dienstag, dem 25. November 2014, nahm meine Schule in einer kleinen, spanischen Vorstadt an der lokalen Kundgebung teil. Viele meiner Mitschüler*innen hatten sich an der Organisation beteiligt, hielten Reden und lasen selbstgeschriebene Texte vor. Wir bekamen eine kleine, lila Schleife, die wir uns ansteckten. Ich wunderte mich damals, warum es diesen „internationalen“ Tag in Deutschland nicht gab; warum ich nie mitbekommen hatte, dass er in irgendeiner Art abgehalten wurde; warum ich es bis heute nicht mitbekommen habe. Warum wird dieser Tag in Spanien selbst in kleinen Vorstädten mit unter zehntausend Einwohnern offizieller begangen als in irgendeiner deutschen Großstadt? Weil Gewalt an Frauen in Spanien verbreiteter ist als in Deutschland?
Wohl kaum. Zumindest nicht, wenn die offiziellen Datenerhebungen zu Femiziden, also der Tötung von Mädchen und Frauen aufgrund ihres Geschlechts, in beiden Ländern miteinander vergleicht.
Um Femizide von anderen Morden an Frauen abzugrenzen, ist es wichtig, die Systematik dahinter zu verstehen. Wichtig ist dabei vor allem das Täterprofil: In der Regel ist es der Partner oder Expartner. Der Grund für die Tat sind der Glauben, die Frau zu besitzen, und die Angst, die Macht über sie zu verlieren bzw. verloren zu haben. Einem Femizid gehen zudem länger andauernde körperliche und psychische Misshandlungen voraus.
In Spanien wurden zwischen 2015 und 2021 insgesamt 357* Frauen aus diesem Grund ermordet. In Deutschland waren es im selben Zeitraum 928.** Die Dunkelziffer wird deutlich höher geschätzt. Auch wenn die Femizide ins Verhältnis zur Bevölkerungszahl gesetzt werden, ergibt das keinen allzu großen Unterschied – Spanien steht dann noch ein bisschen besser da als Deutschland. Und daher bleibt meine Frage: Warum ist der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen in Deutschland so unbekannt?
Es wird zu wenig über Femizide gesprochen. In der deutschen Berichterstattung werden sie oft als „Familiendrama“ verharmlost. Überhaupt wird der Begriff „Femizid“ nur sehr selten verwendet. So titelt die hessenschau am 31.10.2022: „Frau mit 41 Messerstichen getötet – Ehemann unter Mordverdacht.“*** Doch die Bezeichnung eines Femizides als solchen ist wichtig, denn Femizide sind die Konsequenz eines tiefsitzenden, gesellschaftlichen Problems. Sie entstehen aus patriarchalen Strukturen. Es geht nicht einfach nur um einen Streit, der in Totschlag endet, es geht um Besitzdenken und männliche Macht.
Um einen Femizid geht es auch in dem neuen Roman des dänischen Autoren Niels Frank. Fanden tage dig, auf Deutsch etwa „Verdammt seist du“, erschien im vergangenen Herbst und berichtet von der Zeit vor und nach dem Femizid an der Schwester des Autoren im März 2021: Die 62-jährige Elin Frank trennt sich nach 30 Jahren vom ihrem Mann, der sie psychisch und körperlich misshandelte. Fast drei Monate ist sie auf der Flucht, versteckt sich bei Freunden und Angehörigen und zieht schließlich in ein Frauenhaus. An dem Tag, an dem die Vermögensteilung vollzogen werden soll, erschießt ihr Mann sie.
In Dänemark werden jährlich durchschnittlich zwölf Frauen von ihren Partnern oder Expartnern getötet.**** Das klingt erstmal wenig, im Verhältnis zur Bevölkerungszahl von fast 6 Millionen ist diese Statistik jedoch noch dramatischer als in Deutschland oder Spanien. Wie wichtig Literatur für die Aufarbeitung solcher Probleme ist, zeigt sich an Niels Franks Roman, der in Dänemark die Debatte um Femizide anfachte und u. a. als das „wichtigste Buch des Jahres“***** bezeichnet wurde.
Vor diesem Hintergrund ist es besonders problematisch, wie verbreitet die Romantisierung von Gewalt gegen Frauen in der medialen Darstellung ist. Hier ein paar Beispiele:
Stephanie Meyer, Die Twilight-Saga (2005-2009): Die romantische Beziehung zwischen einem Vampir und einem Menschen ist schon allein aufgrund des rein körperlichen Kräfteverhältnisses problematisch. Doch genau das wird romantisiert: Edward könnte Bella jederzeit umbringen – das entspräche seiner Natur als Jäger – aber er tut es nicht, weil er sie liebt. Dass sie sich in seiner Gegenwart konstant in Lebensgefahr befindet, ist ihr egal. Die Romantisierung der Liebesbeziehung zwischen einem weiblichen Menschen und einem männlichen Fantasiewesen (ob Vampir, Werwolf etc), wie sie im Fantasy-Genre der Popkultur mittlerweile üblich ist, ist meiner Ansicht nach die Verharmlosung des starken bzw. stärkeren Mannes – eine Rückkehr zu längst überholten Geschlechtsvorstellungen. Und auch abgesehen von der fantastischen Komponente ist Twilight hochproblematisch: Edward stalkt Bella – er verschafft sich heimlich Zutritt zu ihrem Schlafzimmer und beobachtet sie beim Schlafen –, er trifft sämtliche Entscheidungen über ihren Kopf hinweg, und verbietet ihr aus Eifersucht, sich mit Jacob zu treffen. (Wie konnte ich jemals glauben, das sei romantisch?)
Der Film The Kissing Booth (2018): Der männliche Protagonist Noah verbietet seinen Mitschülern, mit der weiblichen Hauptfigur Elle auszugehen – weil er heimlich in sie verliebt ist –, und wird gewalttätig, wenn es trotzdem jemand versucht. Sehr früh in der Handlung greift ein Mitschüler Elle unter den Rock – was sie nicht davon abhält, sich später auf ein Date mit ihm einzulassen – und Noah hält ihr vor, sie müsse sich nicht wundern, wenn sie so einen kurzen Rock trage!
Der Roman November 9 (2015; dt. Nächstes Jahr am selben Tag, 2017) von Colleen Hoover: Der männliche Protagonist Ben sexualisiert und objektiviert die Protagonistin Fallon durchgehend. Er kontrolliert, was sie anzieht, misshandelt sie regelmäßig verbal und droht ihr körperliche Gewalt an. Die Erstausgabe dieses Romans enthält sogar eine Vergewaltigung, die entsprechende Szene wurde jedoch in neueren Ausgaben umgeschrieben.
Vor allem im Genre des New Adult bzw. Young Adult werden toxische Beziehungen und Gewalt gegen Frauen immer wieder verharmlost und romantisiert. Die Misshandlung durch den Partner wird durch ein vorangegangenes Trauma gerechtfertigt (vor allem in den Romanen von Colleen Hoover). Das Narrativ „I can fix him“ ist weit verbreitet und mindestens genauso problematisch. Denn nein, du kannst ihn nicht „reparieren“. Traumata sind real – sie müssen ernst genommen und behandelt werden (von ausgebildeten Experten), aber sie rechtfertigen keine Gewalt.
Diese Geschichten zu erzählen, ist natürlich von der Kunstfreiheit abgedeckt. Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass wir solche Geschichten brauchen, weil sie die Diskussion über Missbrauch, geschlechtsbasierte Gewalt und Femizide anregen können. Ein Problem sehe ich in der Vermarktung solcher Geschichten an Jugendliche, die noch nicht in der Lage sind, diese Art von Beziehungen zu hinterfragen und vor allem zu problematisieren (siehe hierzu auch unseren Artikel „Warum Bücher Altersempfehlungen brauchen“). In einer Gesellschaft, in der eh schon viel zu wenig über Femizide und Gewalt gegen Frauen gesprochen wird, in der Victim Blaming (Opferbeschuldigung) Alltag ist, in der jeden dritten Tag eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet wird, so die Statistik in Deutschland, ist es fatal, diese Art von Beziehung als „romantisch“ zu verkaufen.
Und deshalb meine Frage: Warum ist der Internationalen Tag für die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen in Deutschland (noch) nicht bekannter?
* Diese Angaben beziehen sich auf die Veröffentlichung des spanischen Gleichstellungsministeriums (Ministerio de Igualdad) vom 31.12.2021: https://violenciagenero.igualdad.gob.es/violenciaEnCifras/victimasMortales/fichaMujeres/pdf/VMortales_2021.pdf (aufgerufen am 03.02.23).
** https://www.ndr.de/kultur/Femizide-in-Deutschland-Fallzahlen-gehen-2021-leicht-zurueck,femizid100.html (aufgerufen am 03.02.23).
*** https://www.hessenschau.de/panorama/stadtallendorf-frau-mit-41-messerstichen-getoetet—ehemann-unter-mordverdacht-v1,stadtallendorf-ehefrau-getoetet-ehemann-haftbefehl-100.html (aufgerufen am 03.02.23).
**** https://www.alt.dk/artikler/klumme-om-national-handlingsplan-mod-drab-paa-kvinder (aufgerufen am 12.02.23).
***** https://litteratursiden.dk/index.php/anmeldelser/fanden-tage-dig-0 (aufgerufen am 12.02.23).