Vortrag vom 23.01.2018
Mit dem Ausdruck „Deep Hanging Out“ betitelte der amerikanische Anthropologe Clifford Geertz (1926-2006) einst einen Artikel in der New York Review of Books (1998). So augenzwinkernd und unwissenschaftlich die Bezeichnung des ‚tiefgründigen Herumhängens‘ klingen mag, so weitreichend war die damit verbundene Kritik an der damaligen Praxis der Kultur- und Sozialanthropologie. Dem etablierten Dispositiv des wissenschaftlichen Ethnografen, der gekonnt in fremde Kulturen eintaucht, dort lange lebt und diese objektiv beschreibt, setzt das ‚deep hanging out‘ die Subjektivität, Unplanbarkeit und Kontingenz anthropologischer Beschreibung entgegen. Feldforschung findet eben nicht mehr im Dschungel und im Zelt und mit der überheblichen Rhetorik des Wissenschaftlers statt, wie es Renato Rosaldo kritisierte, sondern in Bars und Straßenecken, Museen und Vernissagen, mit anderen Menschen und nicht nur über sie.
Clifford Geertz will mit dem Begriff des ‚deep hanging out‘ die notwendige Dezentrierung der Autorität des Anthropologen unterstreichen, dessen Einblicke immer partiell bleiben müssen. Geertz spricht gar von einer Fundamentalkritik der epistemischen Illusion und Arroganz anthropologischer Objektivität. Aber inwiefern erlaubt das neugierige ‚Herumhängen‘ und die Reflexion neuer anthropologische Forschungsansätze ein anderes Schreiben, Sprechen und Denken über zeitgenössische Kunst und Theater? Welche Einblicke ermöglichen diese originellen Formen der ergebnisoffenen, flexiblen und langfristigen Forschung? Lassen sich solche Methoden auch in theaterwissenschaftliche oder kuratorische Forschung einbinden und wenn ja, wozu kann dies führen?
Ausgehend von langjähriger anthropologischer Forschung mit Stadttheatern, freien darstellenden Theaterkollektiven und KuratorInnen zeitgenössischer Kunst in Deutschland stellt dieser Vortrag die Besonderheiten ethnografischer Methoden zur Diskussion. Dabei geht es auch um die Frage, inwiefern solche erweiterten Methoden neue künstlerische und theoretische Verflechtungen von künstlerischer Praxis, Theaterwissenschaft und Anthropologie provozieren können.
Jonas Tinius ist nach einem Studium in Münster sowie einer Promotion in Sozialanthropologie am King’s College, University of Cambridge (UK) seit Juni 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin im Centre for Anthropological Research on Museums and Heritage (CARMAH).Zu seinen Veröffentlichungen zählen: Anthropology, Theatre, and Development: The Transformative Potential of Performance (Mit-Hg. 2015); Micro-utopias: anthropological perspectives on art, creativity, and relationality (Mit-Hg. 2016); „Prekarität und Ästhetisierung: Reflexionen zu postfordistischer Arbeit in der freien Theaterszene“, in: Ove Sutter und Valeska Flor (Hg.): Ästhetisierung der Arbeit. Kulturanalysen des kognitiven Kapitalismus(2017).