Archiv der Kategorie: Hölderlin-Gastvorträge

Im Rahmen der Vortragsreihe „Friedrich-Hölderlin-Gastvorträge in Allgemeiner und Vergleichender Theaterwissenschaft“ soll die Theaterwissenschaft in einem größeren Kontext jener philosophischen, politischen und sprachphilosophischen Fragen situiert werden, die immer mit im Spiel sind, wenn man über Theater nachdenkt, die aber häufig ausgeblendet werden. Neben den Fragen, die das Theater im engeren Sinne betreffen, geht es in den Beiträgen der eingeladenen Gäste auch um solche Fragen, die Theatertheorie und Theorie, auf die Theater sich bezieht, betreffen. Es geht also um Theater in allen vier Bedeutungen, die diesem Wort entsprechend des Leipziger Theatralitätsdiskurses zukommen: Um Theater, Anti-Theater, Theater im weiteren Sinne und Nicht-Theater. „Theater“ wird dabei im sehr erweiterten Sinne begriffen, den neuere Arbeiten auf dem Gebiet der Theaterwissenschaft nahelegen: Es soll ein Begriff von Theaterwissenschaft etabliert werden, der diese aus dem Kontext ihrer nationalphilologischen Begründung im Deutschland der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts ebenso herauslöst wie aus jener Begrenzung auf die „Aufführung“, welche ihr eigentlicher Begründer im deutschsprachigen Raum, Max Herrmann, um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert vorgeschlagen hatte. Denn Theater ist nicht nur das flüchtige Produkt eines Abends, sondern auch Prozess, Interaktion, Handlung und vor allem kritische Praxis.

Ludwig Jäger (Aachen/Köln): „Die Nachträglichkeit des Sinns. Transkriptionstheoretische Überlegungen zum Metalepsis-Paradox“

Vortrag vom 20.06.2023

Der Vortrag nimmt das Problem der Sinnkonstitution in der kulturellen Semantik im Licht eines Begriffes aus der antiken Rhetorik in den Blick: des Begriffes der Metalepsis. Die Metalepsis stellt eine rhetorische Figur dar, in der die Ursache-Wirkungs-Relation vertauscht ist: „Die Metalepse ist eine Art von Metonymie, mit der man das Folgende erklärt, um das Vorhergegangene verständlich zu machen (Cesar Chesneau Du Marsais). Über diese engere rhetorischen  Bedeutung hinaus steht die Figur des Metaleptischen in verschiedenen epistemologischen, zeichen- und medientheoretischen Kontexten für ein Szenario, das durch die ›paradoxe‹ Situation bestimmt ist, dass das Nachträgliche zu einem Konstituens des Vorgängigen wird.
Daniel Dennett etwa stützt sich in seiner Kritik der cartesianische  Bewusstseinstheorie auf experimentelle Befunde der Psychologie zum Problem des ›Metakontrastes‹ (Paul A. Kolers), mit denen gezeigt werden kann, dass das Gehirn in der Lage ist, ›retrospektive Inhaltselemente in seinen narrativen Strom einzubauen‹. Für Dennett zeigt sich hier, „daß die subjektive Abfolge bewußter Erfahrungen sich nicht immer mit der objektiven Abfolge der für die subjektiven Erfahrungen verantwortlichen Ereignisse im Gehirn deckt“. Nelson Goodman spricht in seinem Buch ›Weisen der Welterzeugung‹ im Anschluss an Dennett von einer ›Theorie der retrospektiven Konstruktion‹. Jacques Derrida versteht in seiner Analyse der Freud’schen Traumdeutung die ›Umschrift‹ des Traums als einen ›Nachtrag der hier ursprünglich ist‹, eine Umschrift, die insofern keine wirkliche Umschrift darstellt: „Weil der Übergang zum Bewußtsein keine abgeleitete und wiederholende Schrift ist, erzeugt sie sich in ursprunghafter Weise und ist eben in ihrer Sekundarität ursprünglich“.
Der Vortrag vertritt im Anschluss an solche Befunde aus einem interdisziplinären Spektrum die These, dass Prozesse der Sinnkonstitution in der kulturellen Semantik prinzipiell einer Logik der ›retrospektiven Konstruktion‹ folgen, einer Logik, die transkriptiv genannt wird. Wilhelm von Humboldt hat sie in der Maxime formuliert, dass in der Sprache „die Bezeichnung erst das Entstehen des zu Bezeichnenden vor dem Geiste vollendet“.

Ludwig Jäger hatte von 1982 bis 2011 den Lehrstuhl für Deutsche Philologie an der RWTH Aachen inne. Von 1991-1994 war er Vorsitzender des Deutschen Germanistenverbandes, von 2002 bis 2009 Geschäftsführender Direktor des SFB/FK 427 „Medien und kulturelle Kommunikation“ der Universitäten Aachen, Bonn und Köln. Von 2010 bis 2022 war er Mitglied des Hochschulrats der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er ist Mitglied des Cercle Ferdinand de Saussure in Genf sowie der Société de linguistique de Paris. Er hatte Senior Fellowships inne am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) Wien, am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS), sowie am Internationalen Kolleg Morphomata der Universität zu Köln, dessen Senior Advisor er war. Er ist gegenwärtig Senior Advisor des Kompetenzzentrums für Gestik und Gebärdensprache (SignGes) RWTH Aachen. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Zeichen- und Medientheorie sowie Theorie- und Fachgeschichte der Sprachwissenschaft.

Dorota Sajewska (Zürich): „Dekolonisierung des Wissens. Zu einer performativen Theorie historischer Handlungsfähigkeit“

Vortrag vom 16.05.2023

Dorota Sajewska ist Kulturtheoretikerin, Theater- und Performanceforscherin sowie Theater- und Tanzdramaturgin. Sie ist Assistenzprofessorin für Interart an der Universität Zürich und ehemalige Juniorprofessorin für Theater und Performanz an der Universität Warschau. Von 2008 bis 2012 war sie Chefdramaturgin und stellvertretende künstlerische Leiterin von TeatrDramatyczny in Warschau. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Kulturwissenschaften, Performativen Studien und Körperanthropologie. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen zu Performance, Theater und bildender Kunst sowie zu Kulturtheorie und -geschichte (auf Polnisch, Deutsch, Englisch und Französisch). Zu den letzten wichtigen Veröffentlichungen gehören die Monographie Necroperformance. Cultural Reconstruction of the War Body (2019) und die Herausgabe des thematischen Hefts Theatreand Communitas (2021). Derzeit leitet sie ein vom SNF gefördertes Projekt Crisis andCommunitas (2018-2023, www.crisisandcommunitas.com). Ab Februar 2023 wird sie Professorin für Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum sein.

Nicholas Johnson (Dublin): “Performance, Media and Adaptation in the Afterlives of Samuel Beckett”

Vortrag vom 08.11.2022

During Samuel Beckett’s lifetime, he crafted works for a wide range of media, as well as referencing and incorporating multimedia elements within his texts. A sustained interest and engagement with analogue technology is indexed in his oeuvre: his narratives often include a fascination with glitches, repetition, distant voices, recording, and the dynamics of control over production and reception of text. These interests are mirrored in Beckett’s directing practice as well, rendered visible especially as he brought his texts to the stage and screen, developed intermedial translations of his own work, or suggested adaptation possibilities for his prose.
The human subject, in the era in which Beckett was producing his work, was already a technological subject, whose embodiment either affected, or was affected by, machines. Three decades after Beckett’s death, both technology and embodiment have evolved, with substantial implications for the ongoing production and reception of his texts. The shift from the analogue to the digital in technology has resulted in what Matthew Causey has called a shift from “simulation” to “embeddedness” in the human. In this context, translation and reception of Beckett’s texts automatically integrates the technological, and contemporary performance practice largely bears this out: new uses of the stage technologies of sound, light, and video, not to mention the role of internet/ computer-based and VR/AR disseminations of Beckett’s texts, show that the evolution of the technological is bound to alter both individuals (making/receiving the text) and the social context (the market of performance, the community of scholars). This lecture blends historical and contemporary examples of Beckett in praxis, in order to establish both the “evolutionary” dynamics of the techno-human interface and the “embodied” dimension of translations across medium or “genre” in Beckett. The dynamic model proposed in this talk will be of interest not only to Beckett specialists, but also to scholars and students of adaptation and intermediality.

Nicholas Johnson is Associate Professor of Drama at Trinity College Dublin, where he convenes the Creative Arts Practice research theme and co-founded the Trinity Centre for Beckett Studies. Recent publications include Experimental Beckett (Cambridge UP), BertoltBrecht’s David Fragments (Bloomsbury), Influencing Beckett / Beckett Influencing(L’Harmattan), Beckett’s Voices / Voicing Beckett (Brill), and the “Pedagogy Issue” of the Journal of Beckett Studies (29.1, Edinburgh UP). He works as a dramaturg with Pan Pan, Dead Centre, and OT Platform. Directing credits include Virtual Play (1st prize, New European Media awards), The David Fragments (after Brecht), Enemy of the Stars (after Lewis). He has held visiting research positions at FU Berlin and Yale.

Ben-Shaul, Daphna: „Unsettled Rope-Dancers: Performing on Sites of Heightened Sovereignty“

Vortrag vom 28.06.2022

The street show of the Seiltänzer, the rope-dancer, in Thus Spoke Zarathustra is performed by two performer-types moving between two towers, embodying Nietzsche’s metaphorical rhetoric – the tamed rope-dancer and the transgressive, creative trickster. About a century later, in De Certeau’s urban theory, the agency of the rope-dancer is present in the distinction made between the point of view from the World Trade Center, and the “walking rhetorics” in the city’s maze. The elevated position is also the one that – physically or symbolically – characterizes areas of increased sovereignty. Among them, border zones charged with differences, flooded with power by means of urban planning. Having taken place in these areas, did the performances that will be discussed create an alternative to this super-imposition? Is Philippe Petit’s walk above the abyss between West and East Jerusalem in 1987 equivalent to the trespassing of his 1974 walk between the WTC towers in New York? How do contemporary on-site performances taking place in Israel transgress heightened sovereignty, or rather place themselves between the heightened gaze and the unsettled maze?

Daphna Ben-Shaul is a Senior Lecturer at the Department of Theatre Arts, Tel Aviv University. She heads the Multidisciplinary and the Interdisciplinary Programs in the Arts at the Faculty of the Arts, TAU, as well as the Actor-Creator-Researcher MFA Track, and teaches at the School of Visual Theatre (SVT). Her theatre and performance research addresses civic and political issues, reflexive performance, performative voiding, creative collectives, and spatial thought and practices. She has published an extensive book on the collective Zik Group, and articles in major periodicals. Her research of contemporary site-specific performances in Israel was supported by the Israel Science Foundation (ISF).

Rotman, Diego:  “Fragile Structures of Knowledge: The Dramaturgy of an Art Based Research Project on Contemporary Sukkot”

Vortrag vom 17.05.2022

Diego Rotman ist Senior Lecturer, Forscher, multidisziplinärer Künstler und Kurator. Seine Forschung konzentriert sich auf performative Praktiken im Zusammenhang mit lokaler Geschichtsschreibung, jiddischem Theater, zeitgenössischer Kunst und Folklore. Seit Juli 2019 ist er Leiter des Instituts für Theaterwissenschaft an der Hebräischen Universität in Jerusalem.

Im März 2021 veröffentlichte Rotman „The Yiddish Stage as a Temporary Home – Dzigan and Shumacher’s Satirical Theater (1927-1980)”. Das Buch, das 2017 in seiner hebräischen Version bei Magnes University Press erschien, wurde mit dem Shapiro Award 2019 für das beste Buch in Israel-Studien ausgezeichnet. Gemeinsam mit Lea Mauas und Michelle MacQueen gibt Rotman „Possession and Dispossession: Performing Jewish Ethnography in Jerusalem“ heraus (Mai 2022). 2017 wurde er zusammen mit Mauas mit dem Preis des israelischen Kulturministers für visuelle Künstler ausgezeichnet. Im Jahr 2014 gab er zusammen mit Ronen Eidelman und Lea Mauas „He’ara: Independent Art in Jerusalem at the Beginning of the 21st Century“ heraus.

Im Jahr 2000 gründeten Rotman und Mauas die Sala-manca Group, die in den Bereichen zeitgenössische Kunst, Performance und Kunst im öffentlichen Raum tätig ist. Die Gruppe gab die Kunstzeitschrift „He’arat shulayim“ heraus und kuratierte und produzierte die „He’ara Contemporary Art Events“. Im Jahr 2009 gründeten sie das „Mamuta Art and Research Center“, das heute als Zentrum für Forschung, Produktion und Präsentation von Kunst im Hansen House in Jerusalem untergebracht ist.

Am 17. Mai 2022 findet die Antrittsvorlesung von Prof. Dr. Rotman zum Thema “Fragile Structures of Knowledge: The Dramaturgy of an Art Based Research Project on Contemporary Sukkot” auf dem Campus Westend (IG-Farbenhaus 1.314) statt, die sich in Auseinandersetzung mit einer Reihe von Projekten der Sala-Manca Group über die Sukkot – den Hütten, in denen die Israeliten während ihres Auszugs in der Wüste lebten – mit Fragen der Architektur politischer Kollektive, der individuellen Geschichtskritik, des Denkens der Landschaft und dem Streben nach einer Souveränität in einem ungebundenen Zuhause befasst.

Peter, Birgit: „Die Etablierung der Theaterwissenschaft im Nationalsozialismus. Über verdrängte und vergessene Fachgeschichte und ihre Konsequenzen“

Vortrag vom 09.10.2021

In den zahlreichen Bänden zur Einführung in die Theaterwissenschaft finden sich fachhistorische Darstellungen, die in aller Kürze auf die nationalsozialistische Ära verweisen. Einzelne Akteure wie Heinz Kindermann, Carl Niessen, Arthur Kutscher oder Hans Knudsen und Institutsgründungen bzw. die Einrichtung von Ordinariaten werden erwähnt (1943 in Wien, 1944 in Berlin), doch eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Faktum der akademischen Etablierung der Disziplin im NS fehlt.

Theaterwissenschaftlerinnen wie Kindermann und seine Schülerin Margarete Dietrich waren von Wien aus bis in die 1980er Jahre wichtige fachpolitische Akteurinnen. Sie, wie auch Knudsen, Kutscher und Niessen prägten als Lehrende die ersten Generationen von Studierenden, bestimmten den Fachdiskurs und die Terminologie. Ihre Werke werden zum Teil noch immer als Grundlagen herangezogen. Unberücksichtigt blieben bisher auch Untersuchungen zur Zusammenarbeit dieser Akteure während der NS-Zeit und zu den fachpolitischen Netzwerken nach 1945. Ein völliges Desiderat stellen Forschungen zu den während des NS exkludierten Theaterforschenden, zu Theaterwissenschaft, Exil und Holocaust sowie eine gendertheoretische Perspektivierung der Fachgeschichte und der theaterwissenschaftlichen Episteme dar.

In diesem Vortrag steht im ersten Teil eine Skizzierung der Fachgeschichte im NS im Kontext von Wissenschaftspolitik und Ideologieproduktion im Zentrum. Im zweiten Teil werden Verdrängungs- und Vergessensstrategien im theaterwissenschaftlichen Diskurs nach 1945 thematisiert, um auf blinde Flecken und Leerstellen in der Fachgeschichtsschreibung zu verweisen. Die Diskussion soll Fragen nach den Konsequenzen der NS-Vergangenheit des Faches Raum bieten.

Birgit Peter ist Privatdozentin an der Universität Wien, wo sie die Leitung des Archivs und der theaterhistorischen Sammlung des Instituts für Theater-, Film- und Medienwissenschaft innehat. Ihre Dissertation und Habilitation beschäftigte sich mit Zirkusgeschichte. Sie lehrte und lehrt zu Zirkus und Zauberkunst an den Universitäten in Leipzig, Bern und Wien. Forschungs- und Publikationsschwerpunkte sind: Zirkus, NS-Theaterwissenschaft und Fachgeschichte, verdrängte Theatergeschichte, Antisemitismus.

Link zum Podcast von Wilsonstreet: https://www.wilsonstrassefm.com/podcast/episode/50b2d2fd/holderlin-vortrage-ws-2122-birgit-peter-wien

Weber, Samuel – ‘Khora’ als Inszenierung des Raumes

Vortrag vom 19.11.2019

Samuel Weber (Evanston, IL) “’Khora‘ als Inszenierung des Raumes“. In seiner Lektüre von Platons Timaios hebt Jacques Derrida die eigenartige Darstellung des “Raumes“ (Khora) hervor: Khora kann weder als eine intelligible Idee noch als eine empirische Sache begriffen werden, sondern scheint vielmehr die Bedingung dieser Opposition als ein Drittes zu sein, das zu keiner “Gattung“ gehört. Während der platonische Text mit “Khora“ eine gewisse Bewegtheit mitzudenken versucht, versteht Derrida diese, wie er schreibt: „mise en mouvement“ (in Bewegung setzen) auch als eine „mise en scéne” (Inszenierung). Damit stellt sich zumindest implizit die Frage, ob die konstitutive Funktion des khoratischen Raumes nicht auch für das Verständnis der theatralen Szene bedeutsam werden könnte. Der Workshop wird sich dieser Frage im Ausgang von einer Rekonstitution der sehr komplizierten Darlegung widmen, die Derrida in seinem “Khora“ betitelten Text unternimmt. 


Samuel Weber ist Professor of Humanities an der Northwestern University und Direktor des Paris Program in Critical Theory sowie Professor an der European Graduate School in Saas-Fee. Er hat an zahlreichen europäischen und amerikanischen Universitäten gelehrt und arbeitete auch als Übersetzer und Dramaturg. 

Theodoridou, Danae – Dramaturgie als Arbeit an Handlungen

Vortrag vom 29.01.2019

Von 2013–2016 leitete Danae Theodoridou zusammen mit Konstantina Georgelou und Efrosini Protopapa ein künstlerisches Forschungsprojekt mit dem Titel «Dramaturgy at Work», das in Theatern, Universitäten und anderen Räumen in ganz Europa umgesetzt wurde. Mittels einer Reihe von Workshops und Diskussionen wurden in diesem Projekt die Schlüsselprinzipien von Dramaturgie in gegenwärtiger Praxis und ihre politischen Implikationen im Kontext des neoliberalen Kapitalismus untersucht. Die Resultate dieser Forschung wurden in dem Buch «The Practice of Dramaturgy: Working on Actions in Performance» (Valiz, 2017) publiziert. Ausgehend von dieser Publikation wird sich der Vortrag mit dramaturgischer Praxis auf der Grundlage einer etymologischen Neudefinition des Begriffs beschäftigen, welche von den drei Autorinnen vorgeschlagen wird: Dramaturgie, die sich von den griechischen Begriffen «Drama» (Handlung) und «Ergon» (Arbeit) ableitet, konstituiert
einen Prozess des «Arbeitens an Handlungen» und berührt deshalb politische Prozeduren in ihrem Kern.

Danae Theodoridou lebt und arbeitet als Performance-Künstlerin und Theaterwissenschaftlerin in Brüssel. Sie wurde an der Universität Roehampton in London mit einer Arbeit über Dramaturgie im zeitgenössischen Theater und Tanz promoviert, lehrt an zahlreichen Universitäten, Theater- und Tanzhochschulen in Europa und kuratiert Forschungsprojekte, die eng mit künstlerischer Praxis verbunden sind. Im Mittelpunkt ihrer künstlerischen Arbeit steht der Begriff des sozialen Imaginären und die Frage, wie Kunst zum Entstehen von sozialen und politischen Alternativen beitragen kann.

Schneider, Rebecca – Im Stillstand

Vortrag vom 11.12.2018

Avital Ronell bereitet Heideggers Aufbereitung Hölderlins auf und alle stolpern immer wieder von Neuem über die Figur der ?braunen Frauen?, die ?gehn?, in Hölderlins Gedicht Andenken. Was heißt es, mitten im Schritt innezuhalten? Carrie Mae Weems macht in ihrer Serie Roaming Kunst als gehende braune Frau, steht dabei aber Bild für Bild stocksteif. Oder nicht? Der Vortrag greift die Frage von Schritt und Gang nicht nur im Nachleben der Dichtung auf, sondern auch in Theater, Tanz und Photographie, um Zur-Seite-Treten und Wandern (Roaming) in dürftiger Zeit zu untersuchen, außerhalb der gewohnten Wiederholung von Dramen des Innehaltens und der Wiedererkennung.

Rebecca Schneider ist Professorin am Department für Theatre Arts and Performance Studies der Brown-University, Providence. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf Theatergeschichte und Theorien der Intermedialität. Zahlreiche Publikationen, u.a.: Theatre and History (2014), Performing Remains: Art and War in Times of Theatrical Reenactment (2011) und The Explicit Body in Performance(Routledge, 1997).

Der Vortrag findet in englischer Sprache statt.

Tinius, Jonas – Deep Hanging Out. Über anthropologische Feldforschung und zeitgenössische Kunst

Vortrag vom 23.01.2018

Mit dem Ausdruck „Deep Hanging Out“ betitelte der amerikanische Anthropologe Clifford Geertz (1926-2006) einst einen Artikel in der New York Review of Books (1998). So augenzwinkernd und unwissenschaftlich die Bezeichnung des ‚tiefgründigen Herumhängens‘ klingen mag, so weitreichend war die damit verbundene Kritik an der damaligen Praxis der Kultur- und Sozialanthropologie. Dem etablierten Dispositiv des wissenschaftlichen Ethnografen, der gekonnt in fremde Kulturen eintaucht, dort lange lebt und diese objektiv beschreibt, setzt das ‚deep hanging out‘ die Subjektivität, Unplanbarkeit und Kontingenz anthropologischer Beschreibung entgegen. Feldforschung findet eben nicht mehr im Dschungel und im Zelt und mit der überheblichen Rhetorik des Wissenschaftlers statt, wie es Renato Rosaldo kritisierte, sondern in Bars und Straßenecken, Museen und Vernissagen, mit anderen Menschen und nicht nur über sie.

Clifford Geertz will mit dem Begriff des ‚deep hanging out‘ die notwendige Dezentrierung der Autorität des Anthropologen unterstreichen, dessen Einblicke immer partiell bleiben müssen. Geertz spricht gar von einer Fundamentalkritik der epistemischen Illusion und Arroganz anthropologischer Objektivität. Aber inwiefern erlaubt das neugierige ‚Herumhängen‘ und die Reflexion neuer anthropologische Forschungsansätze ein anderes Schreiben, Sprechen und Denken über zeitgenössische Kunst und Theater? Welche Einblicke ermöglichen diese originellen Formen der ergebnisoffenen, flexiblen und langfristigen Forschung? Lassen sich solche Methoden auch in theaterwissenschaftliche oder kuratorische Forschung einbinden und wenn ja, wozu kann dies führen?

Ausgehend von langjähriger anthropologischer Forschung mit Stadttheatern, freien darstellenden Theaterkollektiven und KuratorInnen zeitgenössischer Kunst in Deutschland stellt dieser Vortrag die Besonderheiten ethnografischer Methoden zur Diskussion. Dabei geht es auch um die Frage, inwiefern solche erweiterten Methoden neue künstlerische und theoretische Verflechtungen von künstlerischer Praxis, Theaterwissenschaft und Anthropologie provozieren können.

Jonas Tinius ist nach einem Studium in Münster sowie einer Promotion in Sozialanthropologie am King’s College, University of Cambridge (UK) seit Juni 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin im Centre for Anthropological Research on Museums and Heritage (CARMAH).Zu seinen Veröffentlichungen zählen: Anthropology, Theatre, and Development: The Transformative Potential of Performance (Mit-Hg. 2015); Micro-utopias: anthropological perspectives on art, creativity, and relationality (Mit-Hg. 2016); „Prekarität und Ästhetisierung: Reflexionen zu postfordistischer Arbeit in der freien Theaterszene“,  in:  Ove Sutter und Valeska Flor (Hg.): Ästhetisierung der Arbeit. Kulturanalysen des kognitiven Kapitalismus(2017).