Vortrag vom 23.11.2017
Wer sich selbst verstehen, zeigen und wertschätzen will, der braucht ein Gegenüber zur Spiegelung. Ein Gegenüber, dessen Fremdheit sich liebevoll in den Blick nehmen lässt, dessen Opposition aber bitte immer in Referenz auf einen so bestätigten kulturellen Referenzrahmen in Erscheinung treten und so in Zaum gehalten werden soll. Das Paradebeispiel der Gegenwart hierfür ist der (männliche) migrantische Körper: Durch die Konsumgüter der Popkultur und besonders der Musik – von Kanye West bis Haftbefehl – wird er für seine non-konforme Rohheit, für seine oppositionelle Kraft gegenüber einer westlichen Kultur der verstandesmäßigen Mäßigung und Selbstbeschränkung gefeiert. Überraschenderweise wiederholt sich in dieser gegenwärtigen Praxis eine Spielart der Opernästhetik des 19. Jahrhunderts, welche die eigene Kultur durch die Inszenierung ihres Lieblingssujets, des exotischen Fremden, überhöhen, reinigen und erneuern will. Dem Anderen als Fremden eine Bühne zu geben, dies zeigen die Beispiele beider Epochen, bedeutet in der Regel seine Romantisierung, ein gut gemeinter und darin nicht weniger gewaltsamer Akt. Wie könnte eine Bühnenpraxis aussehen, die solche Entgegensetzungen in Prozessen der Verkörperung produktiv unterwandert und andere Körperpolitiken möglich macht? Mit einem Fokus auf die figuralen Körper (Deleuze) in der Musik, wird der Vortrag Modelle vorstellen, die sich der Inszenierung dieser so beliebten kulturellen Entgegensetzung intelligent widersetzen. Dabei lautet der aus wissenschaftlicher und dramaturgischer Praxis abgeleitete Vorschlag, die eigenen Prämissen in der Arbeit am Körper in den Blick zu nehmen samt deren blinder Flecken, Begehren und Inszenierungsweisen. Alexander Kluges Phantasma von der Oper des 19. Jahrhunderts als gesellschaftlichem Kraftwerk kann dabei Hilfestellung sein. Jeanne Bindernagel ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Hygiene Museum und am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig.