26.11.2020
Gernot Grünewald im Gespräch mit Matthias Pees
Gernot Grünewald begreift das Theater als „Politische Anstalt“. Nach einem Schauspielstudium an der Ernst Busch-Schule in Berlin und ersten Gast-Engagements wurde er 2003 Ensemblemitglied des Schauspiels in Stuttgart. 2007 begann er ein Studium der Regie an der Hamburgischen Theaterakademie, das er mit der Diplominszenierung „Dreileben“ abschloss. Sie basierte auf Interviews mit Sterbenden und gewann beim Nachwuchsfestival Körberstudio für junge Regie 2011 den ersten Preis. Die Arbeit deutete in ihren Methoden schon die Handschrift an, die Grünewald seither in einer größeren Zahl von Stückentwicklungen an großen Häusern weiterentwickelt hat, hier in Frankfurt am Schauspiel, in Hamburg am Thalia Theater, am Deutschen Theater in Berlin und derzeit am Schauspielhaus in Stuttgart. Für seine Arbeiten recherchiert Grünewald zusammen mit seinen Schauspieler*innen zu politischen Themen wie Migration, Erderwärmung, Postkolonialismus, der RAF oder dem G-20-Gipfel, um mit dem Material dann Produktionen unterschiedlichster Art zu entwickeln, die unter Titeln in die Theater kommen wie: „Kindersoldaten“, „an,komen – Unbegleitet in Hamburg“, „Performing Embassy of Hope“, „Lesbos-Blackbox Europa, „Vier Tage im Juli – Blackbox G2“, „Patentöchter. Im Schatten der RAF“ und zuletzt „27 Jahre – ein Stück über die Klimakrise“ (noch unaufgeführt wegen der Pandemie). Schauspieler*innen konfrontieren darin als Expert*innen des jeweiligen Themas das Publikum mit dem, was sie herausgefunden haben und versuchen so, das Theater zum „ort der gesellschaftspolitischen auseinandersetzung“ zu machen. Grünewald hat dabei über die Jahre an der Erarbeitung einer offenen Dramaturgie gearbeitet, wie man sie etwa im Januar 2020 an seiner Arbeit „Hereroland“ studieren konnte, einer theatralen Installation, die das Hamburger Thalia-Theater produziert hat. Das Gespräch mit Grünewald führt Matthias Pees. Er hat als Dramaturg unter anderem an der Volksbühne unter Frank Castorf in Berlin gearbeitet, bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen, in Brasilien, bei den Wiener Festwochen und an den Münchner Kammerspielen. Als künstlerischer Leiter des Künstlerhauses Mousonturm ist ihm 2020 der Coup gelungen, zusammen mit weiteren Akteur*innen in der Stadt die zwei wichtigsten wandernden Festivals nach Frankfurt zu holen, Politik im Freien Theater und Theater der Welt. Deren Konzeption stellt nicht zuletzt eine Antwort auf die Frage dar, wo die Zukunft des Theaters in der gegenwärtigen Krise der Institutionen bürgerlicher Öffentlichkeit liegen könnte: In mehr Diversität, Inklusion und Teilhabe, in der Öffnung für neue, bisher in den öffentlichen Häusern unterrepräsentierte Gruppen und in der kritischen Befragung der eigenen Privilegien im Zuge einer Dekolonisierung, die im eigenen Haus anfängt.