19.11.2020
Vortrag von Ulrike Haß
Die Beobachtung, „dass die griechische Demokratie im gleichen Moment erfunden wurde wie die Tragödie“ (Jean-Luc Godard), betont die Grundlosigkeit beider Erfindungen, denen keine Intention, kein Konzept vorausging. Die Betonung ihrer Gleichzeitigkeit führt jedoch über die Aporien antiker Gründungen hinaus. Demokratie als Politik sollte Probleme des internen Zusammenhangs in der Polis lösen (kollektive Existenz), die Tragödie ist der Herausbildung des Protagonisten gewidmet (singuläre Existenz). Die Ontologie vom Plural der Singulare, die sich in dieser Kombination andeutet, erhält ihren entscheidenden Dreh durch ein Faktum, das namentlich in der Tragödie ausbuchstabiert wird. Protagonisten, mag ihr Ruhm auch durch die Jahrhunderte leuchten, haben nicht die Kraft, als Einzelne zu erscheinen. Sie erreichen den Schauplatz ihrer Tragödie nur, indem ihnen ein Grund oder ein Ort eingeräumt wird, über den sie als Einzelne per definitionem nicht verfügen.
Diese Raumspende wird ihnen von einem Chor gewährt, der keine Erfindung des Theaters ist. Der Chor kommt aus ehemals geheiligten Landschaften und wird allererst zum anderen Körper des Theaters. Als solcher gehört er der Repräsentation, die sich auf den Protagonisten als vermeintlich ersten Körper des Theaters stützt, niemals ganz zu und erneuert sich stetig im Kontakt mit dem Außen einer unabsehbaren Pluralität. Chorische Bezugnahmen öffnen den Kollektiv-Plural der Polis und ihre begrenzte Demokratie als Frage. Diese bezieht sich, dem unverfügbaren Eigensinn von Pluralität entsprechend, auf unendliche Verhältnisse.