Krassimira Kruschkova (Wien): „Das unfassbare Archiv. Eine Soloperformance von Arkadi Zaides im Kontext des zeitgenössischen Tanzes“

Vortrag vom 06.02.24

Arkadi Zaidesʼ Choreographie Archive (2014) fokussiert das Camera Project des israelischen Informationszentrums für Menschenrechte in den besetzten Gebieten B‘Tselem, das Videokameras an Palästinenser:innen verteilt, um eine kontinuierliche Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen zu ermöglichen. Das gewählte Filmmaterial zeigt ausschließlich israelische Soldaten, Siedler, Aktivisten in verschiedenen konfrontativen Situationen. Die filmenden palästinensischen Menschen bleiben abwesend, hinter der Kamera, anwesend sind allerdings ihre Bewegungen, Stimmen, Standpunkte. Es geht um den paradoxen Absenz/Präsenz-Modus der Archiv-Praxis und – wie der Vortrag auch mit anderen künstlerischen Beispielen (von Meg Stuart, Rabih Mroué, Walid Raad, Francis Alÿs, Shaymaa Shoukry, Jonathan Burrows/Matteo Fargion u.a.) vorschlägt – um die situativen Paradoxe der Poetik und Politik von Performance heute.

Zaides beteiligt seinen Körper kritisch am kollektiven Bewegungsmaterial seiner israelischen Gemeinschaft, indem er Gesten und Bewegungssequenzen, die er als Filmprojektion nochmals archiviert und aktiviert, immer wieder stillstellt und nachstellt, simultan zum Filmmaterial und dann auch separat, ohne die Filmprojektion. Sein Re-enactment erinnert und prüft, probt zugleich den Kontext – einmal, zweimal, mehrmals –, indem er die filmische und narrative Perspektive immer wieder wechselt, unterscheidet, kritisiert. Indem er derart die Komplexität und Unfassbarkeit des Konflikts darstellt, stellt er seine Undarstellbarkeit aus. Indem er niemals dasselbe wiederholt, wiederholt Archive die Differenz selbst und öffnet jede performative und figurative Position, Positionierung, Perspektive ins Plurale. Die Ambivalenz der Filmsequenzen – gerade in ihrer puren Bild-Faktizität – wird von Zaides choreographisch differenziert: Derart von der Situation abgeteilt, wird er – wie wir – Teil davon.

Krassimira Kruschkova ist Tanz- und Performancetheoretikerin. Seit 1995 Lehre an der Universität für angewandte Kunst und an der Akademie der bildenden Künste Wien. 1994 Promotion und 2002 Habilitation an der Universität Wien. 2003-2017 Leiterin des Theoriezentrums am Tanzquartier Wien. Mehrfache Gastprofessuren an der FU Berlin, an den Universitäten Wien und Salzburg. Kuratorin zahlreicher Vortrags- und Performancereihen. Publikationen u.a.: Hg.: Ob?scene: Zur Präsenz der Absenz im zeitgenössischen Tanz, Theater und Film (2005), Mithg.: Tanz anderswo (2004); It takes place when it doesn’t. On dance and performance since 1989 (2006); Dies ist kein Spiel (2008); Uncalled. Dance and performance of the future (2009); 8 booklets SCORES #0-#7 (2010-2017).