Jg. 46, H. 3 – Themenheft: Bann und Fluch. Zur Rhetorik sprachlicher Gewalt zwischen antiker Tragödie und deutscher Dramatik um 1800, hg. von Oliver Völker und Marten Weise. Mit Beträgen von Carolin Rocks, Joachim Harst, Michael Niehaus, Maximilian Bergengruen und Peter Metzel

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Inhaltsverzeichnis

Oliver Völker/Marten Weise
Zur Rhetorik von Bann und Fluch. Einleitung, S. 189

Carolin Rocks
Der Verfluchteste. Zur tragischen Form nach Sophokles’ König Ödipus, S. 205

Abstract
Der Beitrag diskutiert die strukturgebende Bedeutung des Fluchs in Sophokles’ Tragödie König Ödipus. Es wird argumentiert, dass der Fluch die tragische Form vollends bestimmt. Den Fluchtpunkt der Überlegungen bildet Schillers viel zitierte Einschätzung des König Ödipus (,tragische Analysis‘). Die generische Produktivität der Verquickung von Fluch und Tragödie wird primär anhand des mehr als nur einschlägigen antiken Textes aufgezeigt, dessen ,verfluchte‘ Form noch Schiller als Verfahrensskript beschäftigt.

Joachim Harst
Tragische Flüche: Viermal Ödipus (Sophokles, Seneca, Tesauro, Kleist), S. 217

Abstract
Der vorliegende Aufsatz untersucht die veränderliche Rolle des Fluchs in dramatischen Adaptionen des Ödipus-Mythos. Während sich an der sophokleischen Fassung das Spannungsverhältnis des Fluchs zwischen Mythos und Recht ablesen
lässt, wird der Fluch in späteren Adaptionen seit Seneca zum Gattungsmerkmal der Tragödie schlechthin. Eine weitere wichtige Modifikation nehmen christliche Versionen des Stücks vor, die Ödipus’ Selbstblendung als Opferhandlung verstehen, mit der der mythische Fluch gelöst wird. Eben diese christliche Wendung wird wiederum von Kleist reflektiert, dessen Lustspiel Der zerbrochne Krug den mythischen Ödipus mit dem biblischen Adam überblendet. Hier verwandelt sich der Fluch vom potenten Sprechakt in ein intransitives Fluchen, das zuallererst die ungefügige Sprache selbst betrifft.

Michael Niehaus
Der Fluch und seine Rekapitulationen. Zum Beispiel Der vierundzwanzigste Februar von Zacharias Werner, S. 233

Abstract
Der vierundzwanzigste Februar von Zacharias Werner, 1810 in Weimar uraufgeführt, gilt als Paradigma des Schicksalsdramas. Verhandelt wird in diesem Einakter das Schicksal einer Familie, die unter der „Wirkung des Fluchs“ – so der ursprüngliche Titel – ihre eigene Auslöschung rekapituliert und damit vorantreibt. Der Fluch ist einerseits ein übergroßer väterlicher und gleichsam mythologischer Sprechakt, dessen Wirkung aber andererseits dadurch am Leben gehalten wird, dass er innerhalb einer Familienkommunikation ständig wieder aufgerufen wird. Auf eine
bewundernswert folgerichtige Art und Weise buchstabiert das Drama die nur scheinbar einfache Tautologie aus, dass der Fluch ein Fluch ist. Denn zwar erweist es sich, dass der Fluch innerhalb einer Familie nur unverantwortlich und voreilig in großem Zorn ausgesprochen wird, aber es erweist sich auch, dass jede Selbstzuschreibung des Verflucht-Seins heillos ist.

Maximilian Bergengruen
„Werde Du eine Hure“. Massenmobilisierung und inszeniertes Wahrsprechenin Schillers Die Verschwörung des Fiesko zu Genua, S. 247

Abstract
Gegenstand dieses Aufsatzes sind die institutionalisierten Sprechweisen von Eid, Schwur und Fluch in Schillers Die Verschwörung des Fiesko zu Genua. Ausgehend von Foucault und Agamben werden diese als eine Form des Wahrsprechens begriffen, bzw. genauer gesagt: als ein Anspruch auf Wahrsprechen. Dieser Anspruch wird deswegen vom Republikaner Verrina und seinen Anhängern erhoben, weil sie gegenüber den (potenziellen) Tyrannen Gianettino und Fiesko im Hintertreffen sind: Letzterer agiert nämlich im Drama als ein Magnet, durchaus im Sinne des sich gerade etablierenden animalischen Magnetismus, der die Massen anziehen und für den Umsturz auf seine Seite ziehen kann. Anders das Verrina-Lager, das über diese natürliche Fähigkeit zur Massenmobilisierung nicht verfügt und daher zu medialen und rhetorischen Kunstgriffen greifen muss; Kunstgriffe, die, wie gezeigt werden soll,
die Wahrheit aufs Spiel setzen, die eigentlich durch Eid, Schwur und Fluch versichert wird. Auch die republikanische Ordnung kann also, das wird in Schillers Drama anschaulich vorgeführt, nicht ohne die manipulative Gewalt ins Werk gesetzt werden, die sie eigentlich zu überwinden verspricht.

Peter Metzel
Der gemeine Feind der Menschlichkeit. Acht und Bann in Schillers Wallenstein, S. 263

Abstract
Der Beitrag untersucht konkurrierende Dynamiken gesellschaftlichen Ausschlusses in Schillers Wallenstein, indem er eine Formulierung aus einer Selbstanklage Wallensteins ins Zentrum der Lektüre rückt. Wallenstein spricht von sich selbst dort als dem „gemeinen Feind der Menschlichkeit“. Erstmals wird hier der diskursgeschichtliche Kontext dieser Wendung aufgezeigt. Es handelt sich um eine naturrechtliche Kategorie, die unter dem Namen hostis humani generis auf eine große Bandbreite von sich dem rechtlichen Zugriff entziehenden Akteuren angewandt worden ist. Der durch Wallenstein aufgerufene naturrechtliche Diskurs wird in ein interpretatives Argument integriert: Der „gemeine Feind der Menschlichkeit“ erhält seine Bedeutung für die Trilogie durch einen Kontrast mit einer staatlichen Ausschlussstrategie. In ihm wird ein Bann gedacht, der über den souveränen Machtbereich, den die kaiserliche Reichsacht in der Trilogie festigen soll, hinausweist: auf einen negativ-unbestimmten Begriff menschlicher Gemeinschaft.


Jg. 45, H. 3 – Sammelheft – Mit Beiträgen von Hans Kruschwitz, Alexandra Juster, Hans-Rüdiger Schwab, Benedetta Bronzini

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Hans Kruschwitz
„Ich versuchte die Leere in mir mit Vokabeln zu füllen.“ Identität, Sprache und Trauma in Olga Grjasnowas Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012), S. 133

Abstract
Dieser Aufsatz zeigt, wie konsequent Olga Grjasnowa mit ihrem Debütroman Der Russe ist einer, der Birken liebt die nicht zuletzt im Kontext der deutschen Exilliteratur einflussreich gewordene Vorstellung unterläuft, Sprache und kulturelle Identität würden aufs Innigste zusammenhängen. Sprache verbürgt darin keine kulturelle Identität und Mehrsprachigkeit keine Transkulturalität. Prägend für Grjasnowas Figuren sind vielmehr ihre Traumata. Gemeinschaft zwischen den Figuren – sowie vielleicht das Gefühl des Beheimatetseins – entsteht vor allem durch geteilte Sprachlosigkeit.

Alexandra Juster
Juli Zehs Roman Über Menschen: Konvivialistische Herausforderungen zwischen Stadt und Land, S. 145

Abstract
Juli Zehs Roman Über Menschen fokussiert auf die Problematik der Möglichkeitsräume für ein erfolgreiches menschliches Zusammenleben in der sozialen, ideellen und kulturellen Diversität, im Spannungsfeld zwischen Konsens, Widersprüchlichkeit und Hinterfragung, wobei die Wahl des anzustrebenden Lebensraumes zugunsten des ländlichen Dorfes Bracken, als ‚humanerer‘, lebenswerterer Raum, ausfällt, im Gegensatz zum hektischen, einengenden Großstadtleben. Wenn auch die Lebensbedingungen am Land entspannter und erfüllender zu sein scheinen, so bleibt dennoch die Frage nach dem ‚Wie‘ des Zusammenlebens von Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft und Anschauungen in einem begrenzten, unausweichlichen Raum offen. Diese Frage erhebt ebenso die konvivialistische Bewegung, für die es darum geht, zwischenmenschliche Konflikte nicht zu ignorieren, sondern sie zu überwinden. Juli Zeh formuliert in Über Menschen die gleichlautende Erkenntnis: Wenn menschliches Zusammenleben nicht konfliktfrei denkbar ist, so muss es dennoch Wege geben, Widersprüche zu erkennen, darüber zu reflektieren und sie auszuhalten. Dieses Postulat bildet das Grundthema von Über Menschen und ist der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Nach einem kurzen inhaltlichen Abriss des Romans und dem Verweis auf die bisherige literarische Forschung sowie deren Begrenztheit zum Thema der Konvivenz wird die betonte Dialektik zwischen Großstadt und ländlichem Dorf als möglicher Lebensraum in Über Menschen hervorgehoben, wobei es zuletzt darum gehen wird, die Probleme der Meisterung zwischenmenschlicher Beziehungen im Dorf Bracken aufzuzeigen.

Hans-Rüdiger Schwab
Die Kreuzigung „in eigenartig moderner Form“. Zu Detlev von Liliencrons Gedicht „Rabbi Jeschua“ („Golgatha“), S. 159

Abstract
Religiöse Transformationen sind ein Hauptmotiv der Literatur um 1900. Auf vielerlei Weise werden sie von dieser gespiegelt. Ergiebiges Anschauungsmaterial dafür bietet das Werk Detlev von Liliencrons, eines ihrer angesehensten Vertreter. Die Feinanalyse seiner Fortschreibung des Genres ‚Passionsgedicht‘ versucht freizulegen, von welch herausfordernder Relevanz der gekreuzigte Erlöser des Christentums und sein mögliches Geheimnis noch immer zu bleiben vermag. Zeitkritik verbindet sich hier mit anthropologischer Skepsis und einer Sichtweise, die neuen soziologischen Theoriebildungen benachbart ist. Auch die Rolle des Künstlers wird einbezogen. Auf darstellender Ebene wechselt hart Realistisches mit Impressionistischem und Symbolischem. All diese Ausdifferenziertheiten zeigen nicht nur die Fruchtbarkeit einer traditionellen Gattung religiöser Literatur an, sondern wirken noch immer bestehenden Verkürzungen des ästhetischen Diskurses von Liliencron entgegen.

Benedetta Bronzini
Death as Performance in the Conversations between Heiner Müller and Alexander Kluge, S. 183

Abstract
The subject of this essay is the East German dramatist Heiner Müller (1929–1995) focusing on his role of interviewee and analysing his 24 conversations for the West German television with the director and producer Alexander Kluge (1932–). The conversations took place between 1988 and 1995 and are presented, in a shortened and modified version, in the two volumes edited by Kluge, Ich schulde der Welt einen Toten (1995) and Ich bin ein Landvermesser (1996). Indeed, Kluge is the first and only interviewer who turns Müller the individual into both a subject and an object, not only of recent historical events, but also of art itself. In this peculiar context, Mein Rendezvous mit dem Tod (1995), one of the last conversations between the two German artists, represent a unique case, in which Müller performs his illness and his own death in front of the cameras, thus becoming the protagonist of his last drama.

Jg. 44, H. 3 – Themenheft: Die überwältigende Katastrophe. Wahrnehmungskonstellationen destruktiver Naturereignisse im deutschen Realismus, hg. von Clemens Günther und Laura Isengard. Mit Beiträgen von Roman Widder, Laura Isengard, Oliver Völker, Felix Schallenberg

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Inhaltsverzeichnis

Clemens Günther/Laura Isengard
Editorial, S. 209

Roman Widder
Katastrophenimmunisierung im Chtuluzän: Adalbert Stifters Nachkommenschaften (1864), S. 215

Abstract
Abstract
Der Aufsatz greift den in der Stifter-Forschung erprobten Begriff der Katastrophenimpfung (Christian Begemann) auf, um ihn in Dialog mit neueren Theorien des Anthropozäns bzw. Chtuluzäns (Donna Haraway) zu setzen. Rekonstruiert wird zunächst Stifters schon in seinen frühesten Erzählungen Gestalt annehmende Inversion der idealistischen Erhabenheitsästhetik, deren immunitäre Struktur vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen
Geologie zu verorten ist. Am Beispiel seiner späten Erzählung Nachkommenschaften (1864) wird sodann demonstriert, dass die Impfung gegen klimatische Katastrophen bei Stifter nicht zuletzt durch die Suche nach neuen Formen der Verwandtschaft unternommen wird. Donna Haraways antiapokalyptische, posthumanistische Naturphilosophie bietet dabei ein überraschend geeignetes Passepartout für Stifters Texte, da sie das Problem des Klimawandels wie diese durch eine Vision nicht-biologischer Verwandtschaft beantwortet.

Laura Isengard
Katastrophe und Rettung bei Stifter und Raabe, S. 235

Abstract
Die folgenden Überlegungen befragen die beiden Branderzählungen Kazensilber von Adalbert Stifter und Frau Salome von Wilhelm Raabe auf spezifisch Poetiken der Katastrophe. Stifters Kazensilber fängt zwei katastrophale Ereignisse in Rettung auf. Dies gelingt über die Figur des braunen Mädchens, das innerhalb der realistischen Erzählung ebenso rätselhaft wie stumm bleibt. Die an keine transzendentale Instanz mehr gebundene Rettung markiert eine Leerstelle im Text, die zunächst durch die Zunahme des Erzähltempos kaschiert wird, schlussendlich jedoch aus der (Text-)Ordnung exkludiert werden muss. Demgegenüber verschiebt sich in Raabes Frau Salome die Katastrophe auf das erzählte Bildwerk und kann selbst nicht mehr in der Rettung aufgefangen werden. In Frau Salome kommt es nicht zu einer Auflösung des Kontingenten in der Zeit. Raabe etabliert eine Poetik des Katastrophischen,
die Lücken und Brüche offen ausstellt.

Oliver Völker
Linie – Priel – Strömung. Instabiles Katastrophenwissen und Ozeanographie inTheodor Storms Der Schimmelreiter, S. 251

Abstract
Der Aufsatz setzt sich mit dem Verhältnis von Festland und Meer in Storms Der Schimmelreiter auseinander. Die Forschung geht meist von einer topographischen Gegenüberstellung aus, die den im Zentrum der Novelle stehenden Konflikt zwischen Aufklärung und Irrationalität illustriert. Demnach verweist das durch Arbeit gestaltete Festland auf Prinzipien der kulturellen Ordnung, der Abbildbarkeit im Medium der Karte und auf eine realistische Poetik des Erzählens. Jenseits des Deichs erstreckt sich demgegenüber das Meer als ein lebensfeindliches Prinzip, das jede Ordnung des Raums unterspült und metonymisch für eine dem Menschen gegenübergestellte Natur einsteht. Der Beitrag arbeitet heraus, wie die vermeintlich getrennten Bereiche von Land und Meer durch eine Reihe an Verbindungswegen in Kontakt zueinander treten. Das Meer ist demnach kein negatives Prinzip der Leere, sondern weist
eine eigene Dynamik auf, die ich in den Begriffen des Spiels und der Strömung verdeutliche. Gestalt erlangen diese dynamischen Wasserkräfte besonders im Priel, der in Storms Novelle die Katastrophe bedingt, der die Hauptfiguren rund um Hauke Haien zum Opfer fallen.

Felix Schallenberg
Meeresgewalt. Zur Funktion von Flutkatastrophen in Wilhelm Jensens Posthuma und Vor der Elbmündung, S. 265

Abstract
Der Beitrag befragt die Erzähltexte Posthuma (1872) und Vor der Elbmündung (1903/1904) von Wilhelm Jensen in Hinblick auf literarische Funktionalisierungen von Flutkatastrophen. Während beide Texte oberflächlich als unterhaltsame Liebesgeschichten lesbar sind, verhandeln sie auf einer sekundären Bedeutungsebene übergreifende kulturelle Konflikte. Im Fokus steht im Speziellen, inwieweit sich anhand der ästhetischen Darstellung sowie des Umgangs der Figuren mit der Flutkatastrophe soziale, glaubensbezogene und geschlechtliche Differenzen eruieren lassen. Neben der Erarbeitung textanalytischer Befunde zum entsprechenden Literatursystem wirbt der Beitrag außerdem dafür, einen bisher stark vernachlässigten Autor in den Forschungsdiskurs zum literarischen Realismus
zu integrieren.

Jg. 44, H. 1 – Themenheft: Poetische Taxonomien. Literarische (Un-)Ordnungen der Natur, hg. von Felix Lempp, Antje Schmidt und Jule Thiemann. Mit Beiträgen von Ludwig Fischer, Laura Isengard, Andrea Schütte, Anna Staab und Yvonne Pauly

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Inhaltsverzeichnis

Felix Lempp / Antje Schmidt / Jule Thiemann
Poetische Taxonomien. Eine Einführung mit Christian Morgenstern, S. 1-10

Ludwig Fischer
Poesie des Benennens. Über den Gebrauch von Namen und Zuschreibungen
in Nature Writing
, S. 11-30

Abstract
Wer über Natur – genauer: von seinen Naturwahrnehmungen schreiben will, muss die wahrgenommenen ‚Dinge‘ benennen. Zutreffend benennen. Für sehr viele Naturerscheinungen, denen wir begegnen können, halten die verschiedenen Sprachen und Kulturen Namen bereit, die hunderte oder tausende von Jahren alt sind. Aber nicht nur die Taxonomie operiert mit neuen ‚Kunstnamen‘. Wenn man von der naturwissenschaftlichen Taxonomie absieht, gerät man auch im Hochdeutschen in ein Wirrwarr alter und junger, gültiger oder bezweifelter Benennungen.
Noch unübersichtlicher wird es für das ‚richtige Benennen‘, wenn man die dialektalen Namen einbezieht. Für die Brennnessel haben die Sprachwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen im deutschen Sprachraum vor gut 80 Jahren über 1100 Namen gesammelt. Wie geht mit einem solchen Befund um, wer NaturLiteratur
schreibt? Was ergibt ein genauer Blick auf Texte eines New Nature Writing? Über literarästhetische Strategien des Benennens, mit Beispielen.

Laura Isengard
„Dinge[ ], die niemand kennt.“ – Adalbert Stifters Kazensilber (1853) und die Kunst der Unterscheidung, S. 31-48

Abstract
Vor dem Hintergrund des Paradigmenwechsels von der klassischen Naturgeschichte zu deutlich dynamisierten Wissensordnungen von Biologie und Lebenswissenschaften profiliert der folgende Beitrag Adalbert Stifters Erzählung
Kazensilber (1853) vor dem diskursiven Hintergrund der Taxonomie als statischem Ordnungssystem der Natur. Ausgehend von der rätselhaften Gestalt des braunen Mädchens soll der Text auf klassifikatorische Unschärfen und Mehrdeutigkeiten befragt werden, auf jenes von Marion Poschmann der Dichtung zugeschriebene subversive Potential einer genuin poetischen Taxonomie. Das Mädchen erweist sich nicht nur als zweifache Retterin, indem es einen das Oberflächliche transzendierenden Naturzugang in die Erzählung einführt. Dieses wird zugleich selbst zum Objekt umfassender Klassifikations- und Integrationsbemühungen. Während Stifters Text zwar ein Bewusstsein für die eigene restriktive und exkludierende Verfahrensweise beweist, ringt auch die Wahrnehmungs- und Sprachordnung der Erzählung letztlich um den Anspruch unbedingter Eindeutigkeit.

Andrea Schütte
Das Pflanzenreich ordnen. Paul Scheerbart im Botanischen Garten, S. 49-66

Abstract
Die Taxonomie vor 1800 ordnet botanisches Wissen auf der Grundlage von Ähnlichkeiten in der äußeren Form und des inneren Aufbaus von Pflanzen in beschreibenden Tableaus. Die Zunahme der bekannten Pflanzen und das Beobachten von Ähnlichkeiten über große räumliche und zeitliche Differenzen hinweg macht es nötig, das botanische Ordnungssystem zu erweitern: Pflanzengeografische und pflanzengeschichtliche Erkenntnisse ermöglichen im Jahrhundert die Konstruktion neuer Ähnlichkeitsbezüge und Abstammungsverhältnisse, die die systematisch beschriebenen Pflanzen in geografische Kontexte und historische Entwicklungslinien stellt. Dieses Wissen um botanische Ordnungsmodelle materialisiert sich in den historischen Botanischen Gärten, an deren Anlage sich oft dieser Teil der Wissenschaftsgeschichte ablesen lässt. Der Dichter Paul Scheerbart, Besucher des Botanischen Gartens in Berlin-Dahlem, deutet in Flora Mohr. Eine Glasblumennovelle (1912) einen Gang durch einen Botanischen Garten an. Indem er botanische Ordnungsmodelle zitiert und zugleich konterkariert, öffnet sich sein Text einerseits für eine wissenschaftsgeschichtliche Lesart und stellt andererseits die Frage, welche Rolle Poiesis/Kunst für die Organisation der Natur spielt.

Anna Staab
Ordnungen im Nebel: Alexander Giesches Inszenierung von Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän am Schauspielhaus Zürich (2020), S. 67-86

Abstract
Der Beitrag diskutiert poetische Taxonomien als Klassifizierungsformen, die die allen Taxonomien inhärente Spannung zwischen empirischer Beobachtung und fiktiver Klassifikation selbst unter Beobachtung setzen. Am Beispiel der von ihrem Regisseur Alexander Giesche als visual poem bezeichneten Inszenierung von Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän am Schauspielhaus Zürich wird gezeigt, wie auf dieser Beobachterebene Ordnungen kollabieren und neue Ordnungsversuche auftreten, in denen nicht Materialität, Beständigkeit und Kohärenz, sondern Virtualität, Flüchtigkeit und Fragmentiertheit Wirklichkeitsbezug erlauben. Weil diese in der Inszenierung vorwiegend in nichtsprachlicher Form auftreten, wird zudem deutlich, dass poetische Taxonomien nicht notwendigerweise die Form von Nomenklaturen oder überhaupt sprachlichen Ordnungen voraussetzen oder annehmen.

Yvonne Pauly
Philologische Taxonomien: Literaturwissenschaftliche (Un-)Ordnungen zeitgenössischer Naturlyrik. Ein Werkstattbericht, S. 87-103

Abstract
Die hier resümierte Veranstaltungsreihe, die im Sommer 2022 im Rahmen des Schülerlabors Geisteswissenschaften an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften stattfand, unternahm den Versuch, etablierte literaturwissenschaftliche Praktiken durch Verfremdung ihrer Selbstverständlichkeit zu entkleiden und so der Reflexion zugänglich zu machen. Im Zentrum stand eine Übung, bei der die Teilnehmer:innen, Deutsch-Leistungskurse der 11. Jahrgangsstufe, mit „philologischen Taxonomien“ experimentierten: Nach dem Muster einer Sammlung naturkundlicher Präparate ordneten und klassifizierten sie ein Korpus zeitgenössischer deutschsprachiger Naturgedichte auf Tafeln, wobei die 35 Texte durch Kärtchen mit Autor:innennamen und Titel repräsentiert wurden. Auf diese Weise für das taxonomische Paradigma sensibilisiert, konnten sie Marion
Poschmanns Gedichtpaar der deutsche Nadelbaum/der deutsche Laubbaum, das auf dem poetischen Spiel mit diesem Paradigma beruht, umso kompetenter erschließen.

Jg. 43, H. 3 – Themenheft „Thomas Manns transatlantische Autorschaft“, hg. von Tobias Boes und Kai Sina. Mit Beiträgen von Roman Seebeck, Veronika Fuechtner, Todd Kontje, Maryann Piel, Paulo Soethe, Morten Høi Jensen und Nikolai Blaumer

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Tobias Boes (Notre Dame) / Kai Sina (Münster)
Editorial, S. 175-180

Roman Seebeck (Münster)
Verkörperung des Intermediären. Überlegungen zu Thomas Manns amerikanischer Vortragskunst, S. 181-188

Abstract
Thomas Mann wurde in den Vereinigten Staaten innerhalb kürzester Zeit zum gefeierten public intellectual. Einzen trales und bisher kaum untersuchtes Element des Amerikaner-Werdens des Autors war sein Engagement als Redner auf dem lecture circuit, einer institutionell und gesellschaftlich fundierten genuinen amerikanischen Vortragskultur. In meinem Beitrag argumentiere ich, dass Thomas Manns Agieren auf den Vortragsbühnen des Landes einerseits als Medium des Autors zur kulturellen Annäherung an die Vereinigten Staaten diente und andererseits entschieden dazu beitrug, dass Thomas Mann zu einer gewichtigen Stimme im transatlantischen Diskurs der Kriegsjahre werden konnte.

Veronika Fuechtner (Hanover, USA)
Die Welten der Manns, S. 189-196

Abstract
„Die Welten der Manns“ zeichnet die öffentliche Faszination für die Familienbiografie der Manns und ihre politische Relevanz über die Jahrzehnte hinweg nach. Die Manns selbst bastelten schon an einer Familienfiktion, die ihr Leben und ihre Literatur als exemplarisch deutsch positionieren sollte. Doch die vielen Migrationen in dieser Familienbiografie, und auch die Weise, in der die Manns im Ausland gelesen werden, zeigen, wie sehr diese Familie auch in anderen Heimaten und Sprachen lebte und schrieb und ihnen letztlich auch heute noch zugehört.

Todd Kontje (San Diego)
Joseph in America, S. 197-204

Abstract
This short essay focuses on the most “American” of Mann’s novels in the larger context of his fictional universe. Joseph der Ernährer offers an oblique response to Nazi Germany refracted through the lens of ancient Egypt, but it also reflects Mann’s ongoing engagement with the meaning of America. Mann creates a comic counterpart to historical tragedy, granting humanity a vision of redemption in an utterly debased world. The laudable cosmopolitanism of Mann’s world view unfortunately goes hand in hand with a less admirable tendency to project racial difference and sexual desires onto “dark” continents in his literary works.

Maryann Piel (Chicago)
Celebrity and the Cultural Nation. Thomas Mann’s Lotte in Weimar, S. 205-212

Abstract
Mann’s 1939 Goethe novel, Lotte in Weimar, is a valuable text through which to understand the role of celebrity in the literary and political landscape of the early 20th century. I explore the ways in which an engagement with the field of Celebrity Studies makes possible a reading of Mann’s Goethe as a palimpsest of the historical celebrity author, Mann, a 20th century celebrity author, and Hitler, Germany’s most famous politician in the media age. Mann’s own experiences in the spotlight, especially those gathered in his exile years, inform the social and familial relationships at the center of the novel. Furthermore, Mann takes an ironic stance towards the “Goethe Mythos,” thereby undermining the validity of the cult of genius and inviting a reading that recognizes its shared features with the cult of modern celebrity that made possible Hitler’s rise to power.

Paulo Soethe (Curitiba)
Der Zauberer im Netz. Literatur und Leben in der brasilianischen Rezeption des Zauberberg, S. 213-220

Abstract
Der Beitrag befasst sich mit der neueren Rezeption von Thomas Manns Der Zauberberg in seinem ‚Mutterland‘ Brasilien. Der familiengeschichtliche Hintergrund wird kurz dargelegt, aktuelle Daten zur Zirkulation und Rezeption der brasilianischen Übersetzung des Romans in der Neuausgabe von 2016 werden besprochen. Der Sichtbarmachung von individuellen Leseerfahrungen und der Entstehung literarischer Diskurse in den Sozialnetzwerken schenkt der Text besondere Aufmerksamkeit: Das Beispiel aus Brasilien macht erstens deutlich, dass der mittlerweile hundert Jahre alt werdende Roman von Thomas Mann gerade jetzt unter vielen, auch jüngeren Leserinnen und Lesern großen Anklang findet, und zweitens, dass durch Digitalisierung und neue Herangehensweisen wie die Netnography auch zum Werk des ‚Zauberers‘ ein neues, ergiebiges Areal der international und interdisziplinär ausgerichteten Forschung entsteht.

Morten Høi Jensen (Brooklyn, New York)
The Question of Why. Der Zauberberg and the Meaning of Life. An Essay, S. 221-226

Abstract
This essay examines why ordinary readers, even a hundred years after its publication, are still drawn to Der Zauberberg not just for its formal appeal, but also for its revelatory potential, its promise of holding deep significance. The “novel of ideas” has been repeatedly discredited throughout the twentieth century, and Thomas Mann has sometimes been discredited as a fusty practitioner of the genre. Yet something about Der Zauberberg seems to transcend the limitations of this form.

Nikolai Blaumer (Berlin)
Selbstprüfung. Versuch über Thomas Mann und eine vergessene politische Tugend, S. 227-231

Abstract
Seit seiner Hinwendung zur Demokratie kultivierte Thomas Mann eine politische Tugend, die gerade für einen Intellektuellen seiner Generation alles andere als selbstverständlich war. Er scheute sich nicht, sein eigenes Denken fortwährend kritisch zu prüfen und Positionen auch öffentlich zu korrigieren. Jene bemerkenswerte Qualität Thomas Manns ist lange übersehen worden. Sie sollte gerade angesichts der politischen ‚Zeitenwende‘ unserer Tage Vorbild sein.

Jg. 43, H. 2 – Themenheft „Praktiken der Kanonisierung“, hg. von Martina Wernli. Mit Beiträgen von Oliver Völker, Maren Scheurer, Peter C. Pohl, Martina Wernli, Natalie Moser, Sandra Vlasta

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Martina Wernli (Frankfurt a. M./Deutschland)
Editorial, S. 87-88

Oliver Völker (Frankfurt a. M./Deutschland)
„Auskehricht“: Figuren des Globalen und des Randständigen in Johann Carl Wezels Belphegor und Jonathan Swifts Gulliver’s Travels, S. 89-102

Abstract
Kurz nach seiner Veröffentlichung verschwand Johann Carl Wezels Roman Belphegor (1776) aus der öffentlichen Wahrnehmung und dem etablierten Feld der deutschen Literatur. Bisherige Lektüren haben dafür dessen Misanthropie und Skeptizismus angeführt. In diesem Artikel lenke ich den Blick hingegen auf die Bedeutung von Marginalisierten und Entrechteten für den Roman selbst, indem ich dessen Darstellung des atlantischen Sklavenhandels und somit seine Situiertheit in den Widersprüchen der Spätaufklärung hervorhebe. Die monotone Zeit- und Raumstruktur des Romans, so die These, macht den Handel und die Zirkulation von in Dinge verwandelten Menschen abbildbar, die im Schatten von normativen Modellen des Kosmopolitismus und universeller Rechte stehen. Aus dieser Perspektive wird Belphegor im Kontext der europäischen Kolonialgeschichte lesbar, was durch einen abschließenden Bezug zu Jonathan Swifts Gulliver’s Travels (1726) verdeutlicht wird.

Maren Scheurer (Frankfurt a.M./Deutschland)
„Ruhmdurst“: Weibliche Künstlerschaft in Helene Böhlaus Der Rangierbahnhof, S. 103 -116

Abstract
Das Motiv des „Ruhmdurstes“ der jungen Malerin Olga Kovalski in Helene Böhlaus Der Rangierbahnhof (1896) dient diesem Artikel als Ausgangspunkt, um wichtige Prämissen des Kanonbegriffs aus der Sicht des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu beleuchten. Böhlaus Roman nimmt nicht nur die Kritik an genderspezifischen Ausschlussprozessen vorweg und thematisiert die Strukturen, die Frauen insbesondere aus der ästhetischen Avantgarde und dem Zugang zu künstlerischer Wahrheit ausklammerten, sondern formuliert auch ein relationales Gegenmodell, in dem sich das Streben der Protagonistin ausdrücklich an andere Künstlerinnen richtet. Im Kontext des zeitgenössischen Ruhmdiskurses zeigt sich das utopische Potential des Romans: Statt einer reinen Wettbewerbslogik fordert er Kunst für Frauen, die sie als Rezipientinnen wie als Künstlerinnen ermächtigt und die Dynamiken der Kanonisierung hinterfragt.

Peter C. Pohl (Innsbruck/Österreich)
Praktiken mit K-. Ein terminologischer Vorschlag zur Kanonforschung am Beispiel von Gerhard Henschels Martin-Schlosser-Romanen, S. 117-132

Abstract
Gerhard Henschels autofiktionaler Romanzyklus um Martin Schlosser stellt ein besonders geeignetes Objekt für die kulturwissenschaftliche Kanonforschung dar. Die neun Romane erzählen die Geschichte Martin Schlossers von seiner Geburt bis zu seiner Etablierung als Satiriker und Schriftsteller, wobei sie nicht nur das deutsche literarische Feld in der Art von Literaturbetriebsromanen skizzieren und karikieren; sie verwenden auch literarische Verfahren, die den Präferenzen Schlossers entsprechen – und von Autoren wie Walter Kempowski stammen. Der Beitrag orientiert sich an Pierre Bourdieus Kultursoziologie und Andreas Reckwitz’ Studien zur Akademikerklasse und entwickelt anhand von Henschels Romanen einen terminologischen Vorschlag für die Kanonforschung. Er differenziert vier Praktiken aus ethologischen, kultursoziologischen, literaturwissenschaftlichen, theologischen Provenienzen – Kooperieren, Kuratieren, Kritisieren, Konsekrieren – und zeigt, dass sie Bestandteile kultureller Präferenzbildung und damit auch des Kanonisierens sind.

Martina Wernli (Frankfurt a. M./Deutschland)
Und wer liest Adelheid Duvanel? Zu Mehrfachmarginalisierungen und Kanonisierungsfragen am Beispiel einer wiederzuentdeckenden Autorin, S. 133-146

Abstract
Adelheid Duvanel (1936–1996) gilt vielen noch als ‚Geheimtipp‘. Nachdem ihre Texte größtenteils vergriffen waren, erschien 2021 ein Band mit den gesammelten Erzählungen, weitere Editionen sind geplant. An diesem Band, den Rezensionen und der Editionslage können Prozesse der Kanonisierungen verfolgt werden, Prozesse, die sich gerade in einer Umbruchssituation befinden. Der Beitrag nimmt die Lektüre eines Tagebucheintrages der Autorin vor, um Einblick in das poetische Potenzial von Duvanels Schaffen zu geben. Psychiatrieerfahrung, weibliche Autorschaft sowie lokale versus internationale Rezeption sind Aspekte, die der Beitrag als mögliche Gründe für den Verbleib in einem Schwellenraum der Kanonisierung diskutiert.

Natalie Moser (Potsdam/Deutschland)
Kitsch oder Kanon? Zur reflexiven Funktion weiblicher Skripte in Emma Braslavskys Zukunftstexten, S. 147-162

Abstract
Der vorliegende Beitrag befasst sich mit den Interferenzen der Konzepte Genre, Gender und Kanon in Near Future-Texten von Emma Braslavsky. Im Zentrum der Untersuchung stehen ihr Roman Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten (2019) und ihre verfilmte Erzählung Ich bin dein Mensch. Ein Liebeslied (2019). Gezeigt werden soll, dass Weiblichkeit in diesen Texten u.a. mittels einer programmierenden Hubot als Hauptfigur als subversives Skript inszeniert wird. Zum einen werden anhand weiblicher Skripte textintern heteronormative Wahrnehmungs- und Darstellungsmuster sowie Wertungsdiskurse (z.B. in der Form des Kitsch-Vorwurfes) und Ausschlussmechanismen u.a. im Literaturbetrieb sichtbar gemacht. Anknüpfend an die Tradition der feministischen Science-Fiction wird zum anderen ein bestehende Dualismen wie Natur vs. Kultur, Natur vs. Technik oder Mensch vs. Maschine unterwanderndes, mit kanonischen Narrationen, Diskursen und Figuren spielendes Erzählen von der nahen Zukunft etabliert.

Sandra Vlasta (Genua/Italien)
Dürfen Schwarze Blumen malen? (Sharon Dodua Otoo). Heterogenität im Kanon und/trotz Literaturpreise(n), S. 163-174

Abstract
Literaturpreise werden von der (literarischen) Öffentlichkeit als klassisches Kanonisierungsinstrument aufgefasst, das Aufmerksamkeit schafft und mitbestimmt, welche Bücher und Autor:innen in den Kanon aufgenommen werden. Genau diese Möglichkeit wurde in den letzten Jahrzehnten von Preisen wie dem Adelbert-von-Chamisso-Preis eingesetzt, um möglichen Ausschlüssen von eingewanderten Autor:innen entgegenzuwirken und einen breiteren Kanon zu propagieren. Literaturpreise wie der Deutsche oder der Österreichische Buchpreis verbreitern den Kanon allerdings nur bedingt. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Schnittstelle von und den Wechselwirkungen zwischen Literaturpreisen, Kanon(bildung) und der Heterogenität im Literaturbetrieb der Gegenwart. Der Zusammenhang zwischen Literaturpreisen und Aufmerksamkeit wird erläutert sowie die Gratwanderung zwischen Preisen für marginalisierte Gruppen und der gleichzeitigen Gefahr der Schubladisierung, gegen die sich nicht zuletzt die Autor:innen wehren.

JG. 42, H. 2 – Themenheft „Gegenwartsautor:innen“, hg. v. Brigitte Prutti – Mit Beiträgen von Karin Bauer, Simone Pfleger, Julia K. Gruber, Olivia Albiero, Heidi Schlipphacke

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Brigitte Prutti (Seattle/USA)
Editorial: Gegenwartsautor:innen

Karin Bauer (Montreal/Kanada)
‚Jede Schicht ein Kunstwerk‘. Postmemoriale Autofiktion und Autorschaft in Herta Müllers Atemschaukel (2009) , S. 107-122

Abstract
Die literarische Wertschätzung des „Gulag-Romans“ ist meist gebunden an autobiografische und überwiegend männlich kodierte Prosa, die als Ausdruck und Garantie von persönlicher und historischer Authentizität (miss)verstanden wird. Anhand von Herta Müllers als „parfümiert“ kritisierten Roman Atemschaukel argumentiert dieser Beitrag, dass der Wahrheitsgehalt des postmemorialen Lagerromans nicht in der vermeintlichen Authentizität persönlicher Erinnerung liegen kann, sondern dass es in Atemschaukel vielmehr darum geht, narrative Möglichkeiten auszuloten, durch die das Leiden in einer existentiellen Ausnahmesituation vermittelt werden kann. Müllers Begriffe der Autofiktion und erfundenen Erinnerung sind desweilen im Sinne Ruth Klügers „anders geschliffene Gläser“, die eine ästhetische Wende in der deutschsprachigen Erinnerungsliteratur (Michael Braun) signalisieren. Der Beitrag liest die auf verschiedenen erzählerischen Ebenen veranschaulichte Verknüpfung von Arbeit und Kunst als einen selbstreflexiven, transgenerationalen und gegen-monumentalen Dialog über Autorschaft.

Simone Pfleger (Edmonton/Canada)
Becoming Disposable: Bodies In-Sync and Out-Of-Sync with Method Time in Juli Zeh’s Corpus Delicti (2009), S. 123-138

Abstract
This article analyzes Juli Zeh’s Corpus Delicti: Ein Prozess (2009) to show how the novel explores the ways in which social, cultural, and political structures control, monitor, and regulate the protagonists’ bodies and construction of their subjectivities. My discussions of Corpus Delicti foregrounds the possibility that performative acts which at times render the protagonist Mia Holl precariously illegible within the dominant socio-cultural system, while at other times she may still reside within the system. By doing and undoing a state of belonging and disposability, the character cannot be situated completely and permanently „inside“ or „outside“ the system. In this vein, Mia challenges the prevalent tendency of some readers to valorize resistance by embracing those instances when she registers as belonging to the dominant system. Moreover, distinct formal aspects of Zeh’s text prompt readers to pause and potentially re-read passages, encouraging them to interrogate critically their own desire for both a linear narrative and an optimistic resolution with a happy ending.

Julia K. Gruber (Cookeville/USA)
So wie, wie wenn, als ob: Literarische Tiere und Tierliche Tropen in Eva Menasses Tiere für Fortgeschrittene (2017), S. 139-158

Abstract
Angelehnt an Theorieansätze von John Berger und Jacques Derrida sowie unter Berücksichtigung der Literary Animal Studies, untersucht dieser Beitrag Eva Menasses Erzählband Tiere für Fortgeschrittene (2017). Dabei steht Menasses Spiel mit tierlichen Tropen, d.h. Vergleichen, Metaphern, Allegorien und Ironie und wie sie „Fabelhaftes“ schreibt, im Zentrum der Analyse. In Tiere für Fortgeschrittene wird das Verhalten, das Leiden und das Geschick von Tieren auf die in den Geschichten beschriebenen Menschen bezogen. Als Leserin wird man so aufgefordert, das tierliche und das menschliche Verhalten in Beziehung zueinander zu setzen. Der Essay zeigt auf, welche Art Interaktion zwischen Tieren und Menschen bzw. zwischen Autorin und Leserin zustande kommt, wenn Menasse auf diese Weise Tierinformationen mit Geschichten über Menschen verbindet. Zuletzt wird der Erzählband als Beispiel für interspezielle Kunst diskutiert.

Olivia Albiero (San Francisco/USA)
Fluid Writing: Identity, Gender and Migration in Sasha Marianna Salzmann’s Ausser sich (2017), S. 159-174

Abstract
This article offers a reading of Sasha Marianna Salzmann’s Ausser sich which focuses on the „fluidity“ of the novel as thematic and narrative aspect in relation to questions of identity, gender and migration. My reading shows how Salzmann has crafted a narrative that unfolds at the intersections of multiple transitions in the protagonist’s life. In Ausser sich, the reader follows Ali’s family’s migration from post-Soviet Russia to Germany; Ali’s own search for their past and twin brother in Istanbul; and the gender transition that the protagonist undergoes. My analysis highlights how these thematic aspects are reflected in the form of the novel, its queer narrative voice, and the use of multiple languages. Guided by ideas taken from queer and feminist narrative theory and informed by the concept of „fluidity“ explored within a sociological, postcolonial and postmigrant context, I show how Salzmann’s „fluid writing“ resists binary classifications to account for the shifts described.

Heidi Schlipphacke (Chicago/USA)
Lesbian Camp and the Queer Archive: Angela Steidele’s Rosenstengel: Ein Manuskript aus dem Umfeld Ludwigs II. (2015), S. 175-188

Abstract
Angela Steidele’s 2015 epistolary novel Rosenstengel: Ein Manuskript aus dem Umfeld Ludwigs II presents a queer archive via partially fictional letters from and about Ludwig II and the cross-dressing lesbian Catharina Margaretha Linck, who lived more than 100 years before the Bavarian king. Steidele’s novel highlights the marriage of materiality and fantasy within the queer archive, engaging a mode of Camp aesthetics that always points to the gap between the material/real and fantasy. What is more, it is lesbian Camp, an undertheorized concept, that shapes and structures Steidele’s novel, even those portions concerned with the homosexually inclined King Ludwig. The unrepresentability of lesbian desire surfaces in the novel as textual gaps that connote both a joke and loss, underscoring the affective complexity of the queer archive.

literatur für leser:innen

ISSN 0343-1657 eISSN 2364-7183

Die internationale Zeitschrift „literatur für leser:innen“ (lfl, von 1978 bis 2021 „literatur für leser“) erscheint im Peter Lang Verlag.

Die Zeitschrift versammelt Beiträge, die sich auf die sprachlichen und historischen Eigentümlichkeiten literarischer Texte einlassen und die interpretierende Auseinandersetzung mit ihnen suchen. Den Gegenstand dieser Auseinandersetzung können deutschsprachige literarische Texte aus allen literaturgeschichtlichen Epochen ab dem 16. Jahrhundert bilden.

„literatur für leser:innen“ will außerdem dazu beitragen, die Beziehungen der deutschen Literatur zu den übrigen europäischen und außereuropäischen Kulturen zu erörtern. Komparatistisch ausgerichtete Aufsätze sind in dieser Hinsicht erwünscht.

Die Zeitschrift veröffentlicht sowohl einzelne Beiträge in Sammelheften als auch teils von den Herausgeber:innen, teils von Gasteditor:innen verantwortete Themenhefte und setzt eigenständige Schwerpunkte im literaturwissenschaftlichen Diskurs, die auch eine kulturwissenschaftliche Ausrichtung haben können.

lfl ist blind peer reviewed und ab 1990 bei der MLA International Bibliography verzeichnet (von 1990 bis 2021 als „literatur für leser“).

Jg. 42, H. 1 – Mit Beiträgen von Simela Deliandidou, Gerhard Sauder, Klaus Haberkamm, Ludwig Völker, Dieter Liewerscheidt, Markus Fauser

Download Gesamtheft

Simela Delianidou (Thessaloniki)
Das räumliche Wissen der Literatur über Armut: Hans Fallada Kleiner Mann – was nun?, S. 1-28

Gerhard Sauder (St. Ingbert)
Bergengruen vergessen!?, S. 29-52

Klaus Haberkamm und Ludwig Völker (Münster)
Der Rechte, der Mittlere und der Linke. Zur parabolischen Rechts-Links-Dichotomie in Herbert von Hoerners Erzählung Die letzte Kugel (1937), S. 53-76

Dieter Liewerscheidt (Mönchengladbach)
„Phase II“ oder Benns Wende zur späten Lyrik, S. 77-88

Markus Fauser (Vechta)
„Aus der Haut fahren und in jede beliebige andere hinein“ – Barocke Lyrik bei H. C. Artmann, S. 89-101

Jg. 41, H. 3 – Themenheft „Georg Heyms nachgelassene Prosa und Schriften“, hg. v. Lars Amann. Mit Beiträgen von Frank Krause, Andreas Kramer, Roland Innerhofer, Moritz Baßler, Katharina Scheerer, Wolfgang Braungart und Barbara Neymeyer

Dowhnload Gesamtheft

Lars Amann, Editorial, S. 171-174

Frank Krause (London)
Getarnte Vitalität. Von Alfred Doves Caracosa (1894) zu Georg Heyms Bagrow (1911), S. 175 – 188

Andreas Kramer (London)
Liebes Leben. Formen des erotischen Vitalismus in Georg Heyms nachgelassener Kurzprosa, S. 189 – 198

Roland Innerhofer (Wien)
Vom Fliegen, Fallen und Landen. Science Fiction in zwei nachgelassenen Prosatexten Georg Heyms, S. 199 – 210

Moritz Baßler/Katharina Scheerer (Münster)
Ein Wilhelminisches Wunder. Zu Georg Heyms Der Besuch des Marsmenschen, S. 211 223

Wolfgang Braungart (Bielefeld)
Georg Heym: (1909). Mit einem Blick auf Hölderlin (Über Religion, Ältestes Systemprogramm), S. 225 – 238

Barbara Neymeyr (Klagenfurt)
Zeitkritik und Zukunftsutopie im Zeichen Nietzsches und Schopenhauers. Zum Geistesaristokratismus in Georg Heyms Essay Über Genie und Staat (im Kontext seiner Kleinen Schriften und Tagebücher), S. 239 – 258