Wintersemester 2022/23

Hölderlin Vorträge 2022/23

Nicholas Johnson (Dublin): “Performance, Media and Adaptation in the Afterlives of Samuel Beckett”

Di, 08.11.2022, Campus Westend, Hörsaalzentrum, HZ 10

During Samuel Beckett’s lifetime, he crafted works for a wide range of media, as well as referencing and incorporating multimedia elements within his texts. A sustained interest and engagement with analogue technology is indexed in his oeuvre: his narratives often include a fascination with glitches, repetition, distant voices, recording, and the dynamics of control over production and reception of text. These interests are mirrored in Beckett’s directing practice as well, rendered visible especially as he brought his texts to the stage and screen, developed intermedial translations of his own work, or suggested adaptation possibilities for his prose.
The human subject, in the era in which Beckett was producing his work, was already a technological subject, whose embodiment either affected, or was affected by, machines. Three decades after Beckett’s death, both technology and embodiment have evolved, with substantial implications for the ongoing production and reception of his texts. The shift from the analogue to the digital in technology has resulted in what Matthew Causey has called a shift from “simulation” to “embeddedness” in the human. In this context, translation and reception of Beckett’s texts automatically integrates the technological, and contemporary performance practice largely bears this out: new uses of the stage technologies of sound, light, and video, not to mention the role of internet/ computer-based and VR/AR disseminations of Beckett’s texts, show that the evolution of the technological is bound to alter both individuals (making/receiving the text) and the social context (the market of performance, the community of scholars). This lecture blends historical and contemporary examples of Beckett in praxis, in order to establish both the “evolutionary” dynamics of the techno-human interface and the “embodied” dimension of translations across medium or “genre” in Beckett. The dynamic model proposed in this talk will be of interest not only to Beckett specialists, but also to scholars and students of adaptation and intermediality.

Nicholas Johnson is Associate Professor of Drama at Trinity College Dublin, where he convenes the Creative Arts Practice research theme and co-founded the Trinity Centre for Beckett Studies. Recent publications include Experimental Beckett (Cambridge UP), BertoltBrecht’s David Fragments (Bloomsbury), Influencing Beckett / Beckett Influencing(L’Harmattan), Beckett’s Voices / Voicing Beckett (Brill), and the “Pedagogy Issue” of the Journal of Beckett Studies (29.1, Edinburgh UP). He works as a dramaturg with Pan Pan, Dead Centre, and OT Platform. Directing credits include Virtual Play (1st prize, New European Media awards), The David Fragments (after Brecht), Enemy of the Stars (after Lewis). He has held visiting research positions at FU Berlin and Yale.

Dorota Sajewska (Zürich): „Dekolonisierung des Wissens. Zu einer performativen Theorie historischer Handlungsfähigkeit“

Di, 16.05.2023, 18h, Campus Westend, IG Farben-Haus, 1.411

Das Konzept der historischen Handlungsfähigkeit (historical agency) zielt auf eine alternative Performance-Theorie ab, die sich mit dem emanzipatorischen Potential subalterner Körper auseinandersetzt. Diese Theorie soll als Teil eines onto-epistemologischen Projekts verstanden werden, das sich von demjenigen unterscheidet, das mit der Entwicklung von Kapitalismus, euro-amerikanischer Moderne und westlicher Wissenschaften verbunden ist. In meinem Vortrag möchte ich ein performatives Geschichtsverständnis vorschlagen, das sich nicht auf die logozentrische Historiografie stützt, sondern auf gelebte Erfahrung und körperliche Vermittlung als Manifestationsformen der Kulturen.
Zum Ausgangspunkt meiner kritisch-theoretischen Überlegungen nehme ich ein Ritual, das man durchaus als theatralische Tätigkeit, Aufführungspraxis bzw. tänzerisches Tun beschreiben kann, das aber westliche Begriffsvorstellungen von Theater- und Performancekunst überschreitet. Als Beispiel dient mir die Vodun-Zeremonie des Bois Caïman, die in den oralen Traditionen und kommemorativen Festen, sowie in haitianischer Kunst, Musik, Literatur als Katalysator für die Haitianische Revolution (1791–1804) und somit als prägendes Ereignis in der Geschichte des unabhängigen Haiti anerkannt wird. An diesem Beispiel möchte ich theoretische Konsequenzen aufzeigen, die mit der Notwendigkeit einer Dekolonisierung europäischer Theaterwissenschaft sowie amerikanischer Performance Studies zusammenhängen. Nichtdestotrotz betrachte ich diese historische Szene als „Performance“, um den Bezug zwischen rituellem und darstellerischem Handeln herzustellen, um das Ritual als eine körperliche Form des kulturellen Gedächtnisses zu erfassen und um seine Wirkung in der Geschichte trotz der Diskontinuität und Hybridität der haitianischen Diaspora zu untersuchen.
Indem ich den Schwerpunkt von der Wirksamkeit (efficacy) des Rituals auf die Handlungsfähigkeit (agency) der daran Beteiligten verlagere, schlage ich vor, die Überlegungen zur Performance weniger auf die Singularität eines Ereignisses und unmittelbare Effizienz eines Aktes als vielmehr auf die gemeinschaftliche Erfahrung verschiedener Zeitlichkeiten im Handeln und dynamische Interkonnektivität menschlicher und nicht-menschlicher Akteure zu fokussieren.

Dorota Sajewska ist Kulturtheoretikerin, Theater- und Performanceforscherin sowie Theater- und Tanzdramaturgin. Sie ist Assistenzprofessorin für Interart an der Universität Zürich und ehemalige Juniorprofessorin für Theater und Performanz an der Universität Warschau. Von 2008 bis 2012 war sie Chefdramaturgin und stellvertretende künstlerische Leiterin von TeatrDramatyczny in Warschau. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Kulturwissenschaften, Performativen Studien und Körperanthropologie. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen zu Performance, Theater und bildender Kunst sowie zu Kulturtheorie und -geschichte (auf Polnisch, Deutsch, Englisch und Französisch). Zu den letzten wichtigen Veröffentlichungen gehören die Monographie Necroperformance. Cultural Reconstruction of the War Body (2019) und die Herausgabe des thematischen Hefts Theatreand Communitas (2021). Derzeit leitet sie ein vom SNF gefördertes Projekt Crisis andCommunitas (2018-2023, www.crisisandcommunitas.com). Ab Februar 2023 wird sie Professorin für Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum sein.

Ludwig Jäger (Aachen/Köln): „Die Nachträglichkeit des Sinns. Transkriptionstheoretische Überlegungen zum Metalepsis-Paradox“

Di, 20.06.2023, 18h, Campus Westend, IG Farben-Haus, 1.411

Der Vortrag nimmt das Problem der Sinnkonstitution in der kulturellen Semantik im Licht eines Begriffes aus der antiken Rhetorik in den Blick: des Begriffes der Metalepsis. Die Metalepsis stellt eine rhetorische Figur dar, in der die Ursache-Wirkungs-Relation vertauscht ist: „Die Metalepse ist eine Art von Metonymie, mit der man das Folgende erklärt, um das Vorhergegangene verständlich zu machen (Cesar Chesneau Du Marsais). Über diese engere rhetorischen  Bedeutung hinaus steht die Figur des Metaleptischen in verschiedenen epistemologischen, zeichen- und medientheoretischen Kontexten für ein Szenario, das durch die ›paradoxe‹ Situation bestimmt ist, dass das Nachträgliche zu einem Konstituens des Vorgängigen wird.
Daniel Dennett etwa stützt sich in seiner Kritik der cartesianische  Bewusstseinstheorie auf experimentelle Befunde der Psychologie zum Problem des ›Metakontrastes‹ (Paul A. Kolers), mit denen gezeigt werden kann, dass das Gehirn in der Lage ist, ›retrospektive Inhaltselemente in seinen narrativen Strom einzubauen‹. Für Dennett zeigt sich hier, „daß die subjektive Abfolge bewußter Erfahrungen sich nicht immer mit der objektiven Abfolge der für die subjektiven Erfahrungen verantwortlichen Ereignisse im Gehirn deckt“. Nelson Goodman spricht in seinem Buch ›Weisen der Welterzeugung‹ im Anschluss an Dennett von einer ›Theorie der retrospektiven Konstruktion‹. Jacques Derrida versteht in seiner Analyse der Freud’schen Traumdeutung die ›Umschrift‹ des Traums als einen ›Nachtrag der hier ursprünglich ist‹, eine Umschrift, die insofern keine wirkliche Umschrift darstellt: „Weil der Übergang zum Bewußtsein keine abgeleitete und wiederholende Schrift ist, erzeugt sie sich in ursprunghafter Weise und ist eben in ihrer Sekundarität ursprünglich“.
Der Vortrag vertritt im Anschluss an solche Befunde aus einem interdisziplinären Spektrum die These, dass Prozesse der Sinnkonstitution in der kulturellen Semantik prinzipiell einer Logik der ›retrospektiven Konstruktion‹ folgen, einer Logik, die transkriptiv genannt wird. Wilhelm von Humboldt hat sie in der Maxime formuliert, dass in der Sprache „die Bezeichnung erst das Entstehen des zu Bezeichnenden vor dem Geiste vollendet“.

Ludwig Jäger hatte von 1982 bis 2011 den Lehrstuhl für Deutsche Philologie an der RWTH Aachen inne. Von 1991-1994 war er Vorsitzender des Deutschen Germanistenverbandes, von 2002 bis 2009 Geschäftsführender Direktor des SFB/FK 427 „Medien und kulturelle Kommunikation“ der Universitäten Aachen, Bonn und Köln. Von 2010 bis 2022 war er Mitglied des Hochschulrats der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er ist Mitglied des Cercle Ferdinand de Saussure in Genf sowie der Société de linguistique de Paris. Er hatte Senior Fellowships inne am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) Wien, am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS), sowie am Internationalen Kolleg Morphomata der Universität zu Köln, dessen Senior Advisor er war. Er ist gegenwärtig Senior Advisor des Kompetenzzentrums für Gestik und Gebärdensprache (SignGes) RWTH Aachen. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Zeichen- und Medientheorie sowie Theorie- und Fachgeschichte der Sprachwissenschaft.